Heimstrasse 52
hat er mit dem Gedanken gespielt, aber er ist erst heute zum Arzt gegangen, weil er sich wirklich nicht gut fühlt. Ein wenig gewieft muss man sein.
Wenn der Arzt einen krankschreibt, bezahlt die Krankenkasse das Geld, das sonst die Fabrik gezahlt hätte, das hat er gelernt.
Er zündet sich noch eine Zigarette an, und diese schmeckt schon besser. Er macht sich einen Tee und ein Brot.
|99| Es ist zu einfach, denkt er, als er eine Viertelstunde später seine Schuhe anzieht. Diese Deutschen sind nicht besonders helle, sonst wäre einer von denen schon vorher darauf gekommen. Auf dem Weg zur Arbeit steckt er sich eine dritte Zigarette an. Die schmeckt fast gut nach dem Tee. Zufrieden flitscht er sie nach einigen Zügen in den Rinnstein.
Aber ich bin nicht gesund, hat sogar der Arzt gesagt, sonst hätte er mich kaum krankgeschrieben. Es ist also nur richtig, dass ich Geld von der Krankenkasse bekomme. Und von der Fabrik, denn ich gehe ja arbeiten. Ein wenig gewieft muss man schon sein.
Als Fuat zwei Wochen später ins Personalbüro gerufen wird, ahnt er, dass es nicht so glatt gelaufen ist, wie er sich das vorgestellt hat. Ich werde mich schon rauswinden, denkt er, als er die Tür öffnet.
Minuten später stammelt er nur noch, behauptet, er habe den Arzt falsch verstanden, sein Deutsch reiche wohl nicht, könne man nicht vielleicht auch jetzt einen Dolmetscher hinzuziehen, möglicherweise ist das alles ein Missverständnis.
Als er aus dem Büro kommt, ist er froh, dass er nicht überall mit seiner Idee rumgeprahlt hat. Aber er ahnt auch nicht, dass er diese Geschichte in einigen Jahren selber erzählen wird. Als ich noch jung und dumm und neu hier war, wird er sagen und verschweigen, wie lange er damals schon im Land war.
– Doch daran sieht man mal, wird er schließen, wie hier alles seine Ordnung hat, da wird nicht gemauschelt, da wird nicht betrogen und hintergangen, jeder bekommt, was ihm zusteht. Hier gibt es eben Gerechtigkeit, es ist nicht wie bei uns, wo alles auf Beziehungen und Gefallen aufgebaut ist und die Regeln nur dazu da sind, um sie in Bücher zu schreiben.
Und die Leute werden ihm gerne zuhören, weil er erzählen kann, weil seine Worte Kraft haben, weil er Dinge sagt, die im Gedächtnis bleiben, weil er eigene Formulierungen findet, weil man die Leidenschaft spürt, einen Drang, aus dem Klang |100| der Worte eine Welt zu basteln, eine Welt, die man sehen und fast schon anfassen kann. Eine Welt, in der Fuat immer gut dasteht. Nur weil er nicht in der Lage war zu betrügen, glaubt er gleich, das System sei gerecht.
So ähnlich muss es auch bei meiner Mutter gewesen sein, denkt Gül, wenn sie beobachtet, wie die Männer sich um Fuat versammeln, wenn er zu einem Monolog ansetzt. So ähnlich muss es gewesen sein, als ihre Eltern aufs Dorf gezogen sind und die Frauen dort sich um Güls Mutter geschart haben, die die Einzige war, die Märchen kannte und sie obendrein auch erzählen konnte, als seien die Worte Farben und sie mit einem Pinsel in der Hand zur Welt gekommen.
Gül selbst hat dieses Talent nicht. Wenn ihr zu viele Menschen auf einmal zuhören, wird sie unsicher, sie mag diese Form der Aufmerksamkeit nicht, und sie merkt nicht mal, wie sie ihre Zuhörer verwirrt, weil sie selten bei einem Thema bleibt, sondern einfach ihren Assoziationen folgt. Die Welt, durch ihre Worte betrachtet, ähnelt einem Kaleidoskop, alles ist in Bewegung, wird kaum greifbar, und wenn man glaubt, man würde es verstehen, kommt ein neuer Stein in die Geschichte und verändert das ganze Muster.
Fuat hat meistens nur einen Stein, und den zeigt er, wenn auch nur von einer Seite, aus einem Winkel, aber der Stein wird für alle sichtbar. Und darum geht es beim Erzählen, sichtbar zu werden.
Sie hört das Klopfen an der Tür, reagiert aber nicht darauf. Es dämmert schon, vorhin ist sie die Straße hoch- und runtergelaufen, hat die Namen ihrer Töchter gerufen, hat die Nachbarn gefragt, doch niemand hatte Ceyda und Ceren gesehen.
Ja, Gül hatte die beiden rausgeschickt, weil sie durch die Wohnung tobten, auf der Treppe um die Wette liefen, schrien und sprangen und ihr keine ruhige Minute ließen.
Sie hat sie mehr rausgeworfen als geschickt, sollten sie doch |101| bleiben, wo der Pfeffer wächst, wenn sie nicht auf ihre Mutter hörten, sollten sie sich doch auf der Straße herumtreiben und sehen, ob sie nicht dort jemand auf die Nerven gehen konnten. Und dann hat sie sie gesucht, und nun, da sie nicht auffindbar
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