Heimstrasse 52
bewundern, dass Gül sich Minuten später bei einer Geschichte eine Träne wegwischt, ergriffen von Melancholie oder Trauer oder Rührung. Manche glauben sogar, Gül könnte tiefer fühlen als sie, weil es nie so aussieht, als läge ihr etwas daran, ihre Gefühle auszustellen.
Die Männer hingegen, die zu den Yolcus kommen, würden es zwar ungern zugeben, aber sie sind beeindruckt vom Angebot in diesem Haus. Auch sonst ist Fuat über die Maßen spendabel, doch zu Silvester gibt er das Geld mit noch volleren Händen aus, der Alkohol, die Knabbereien sind schier unerschöpflich in diesem Haus, und die Summe, die er für Feuerwerk ausgibt, ist nahezu so hoch wie das Haushaltsgeld seiner Frau. Das ist auch einer der Gründe, warum die Kinder so gerne im Haus mit der Nummer 52 feiern. Um Mitternacht gibt es so viel zu knallen, dass auch sie nicht zu kurz kommen.
Bereits Tage vorher ist Fuats Laune schon gehoben. Wenn er einen Einkaufswagen voller Spirituosen und Feuerwerk zur Kasse schiebt, könnte man glatt glauben, das Haus in der Türkei sei schon fertig gebaut, inklusive Garage, in der ein Sportwagen steht, so sehr strahlt der Mann. Und selbst während er an der Kasse drei, vier oder gar fünf blaue Scheine hinblättert, wirkt er, als hätte er den lang ersehnten Lottogewinn eingefahren.
|115| – Zu irgendetwas muss diese ewige Schufterei und Ackerei gut sein, wir wollen doch nicht vegetieren wie Gras auf der Wiese. Gott hat dem Menschen Vernunft gegeben, und das ist auch gut so, aber manchmal muss einem einfach alles egal sein, sonst frisst dieses Leben einen auf.
Die Gesichter, die zufriedenen Gesichter der Freunde, die lachenden der Kinder, so etwas kann man nicht mit ein paar Scheinen kaufen, und wenn doch, so ist es nicht verwerflich. Ein Haus voller fröhlicher Menschen mit guten Vorsätzen und lichten Hoffnungen, ein Haus, getragen von Freude, in dem alle Sorgen und Sehnsüchte vergessen sind.
Zu Silvester schwebt die Nummer 52 über dem Boden, und auch Ceyda und Ceren freuen sich auf diesen Abend und diese Nacht, nachdem sie Weihnachten endlich hinter sich gebracht haben.
Die Weihnachtstage könnten in der Heimstraße Sonntagen gleichen, außer Tante Tanja wohnen keine Christen dort. Die Spanier, Jugoslawen und Griechen sind weggezogen, die meisten fort aus Deutschland.
Man könnte das Auto vor der Tür waschen, die Musik laut drehen, sich gegenseitig besuchen wie sonst immer, fernsehen, kochen, häkeln, Karten spielen, seinen Kater auskurieren, man könnte die Dinge tun, die man an Wochenenden tut, doch Weihnachten weht nicht mal durch die Heimstraße ein Wind.
Sei es, weil das Fernsehprogramm anders ist, sei es, weil die Stille in den Straßen sich aufs ganze Städtchen legt, sei es, weil die Bewohner einen unbewussten oder zumindest unausgesprochenen Respekt vor diesem Fest haben. Sei es, weil sie Angst vor Gerede haben – irgendwie würden die Deutschen schon merken, dass man laut ist, sei es, weil ein fast ausgestorben wirkender Ort stets Ehrfurcht auslöst, sei es, weil sie die Straße nicht verlassen können, was sollten sie woanders, wenn alles geschlossen ist? Zu Weihnachten langweilen sich |116| die meisten Bewohner der Heimstraße, während Tanja allein daheimsitzt und sich wünscht, ihre Nachbarn würden sie besuchen.
Wenn sie uns doch arbeiten ließen und uns dafür am Opferfest oder zu Ramadan freigäben, da hätten wir mehr davon, denkt der eine oder andere.
Doch vielleicht liegt die Ausgelassenheit, das Gelächter und Gejohle beim gemeinsamen Bingospiel zu Silvester auch an diesen Weihnachtstagen, die sich anfühlen wie Steine im Weg, die man hinter sich gebracht haben muss, bevor ein neues Jahr mit neuen Versprechungen beginnen kann.
Das Bingospiel, von dem Gül angenommen hatte, dass es zu Silvester in der ganzen Türkei gespielt wird, ist einigen Freunden und Nachbarn zunächst neu, doch schon bald werden an jedem Jahresende in der ganzen Heimstraße Zahlen gezogen.
Yılmaz starrt in diesem Jahr auf seine Karten, sein Blick ist leer, und in dem allgemeinen Gerede fällt niemandem auf, dass er schon länger schweigt. Als Gül eine Runde aussetzt, Aschenbecher leert und Gläser auffüllt, bemerkt sie, dass Yılmaz die gezogenen Zahlen nicht auf seiner Karte abdeckt, und sie glaubt, dass ihm das Spiel zu langweilig ist, dass er sich, gebildet, wie er ist, erhaben darüber fühlt.
Doch als bald darauf alle aufstehen, um das neue Jahr mit viel Feuerwerk zu begrüßen, bleibt
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