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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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Yılmaz einfach auf seinem Stuhl sitzen. Gül scheint die Einzige zu sein, der das auffällt. Saniye hat zwei Whisky-Cola getrunken, und wenn man sie so sieht, kichernd wie ein angesäuselter Backfisch, würde man nicht ahnen können, was für eine Geschichte sie erzählen kann, man würde nicht glauben, dass ihre Augen in einem normalen Gespräch unvermittelt in eine ungeahnte Dunkelheit abtauchen können.
    Gül geht nochmals zurück in die Küche, Viertel vor zwölf in einer Silvesternacht Mitte der siebziger Jahre. Yılmaz sitzt |117| bewegungslos auf seinem Stuhl und starrt auf seine Bingokarte.
    – Möchtest du vielleicht mit rauskommen?, fragt Gül behutsam.
    Yılmaz hebt den Kopf und sieht sie an, sein Blick stier.
    – Oder lieber alleine drinnen bleiben?
    – Ich komme schon raus, sagt er, ich komme schon raus.
    Er erhebt sich langsam und vorsichtig, stützt sich mit einer Hand am Tisch ab. Als er steht, nimmt er seine Zigarettenpackung und steckt sie in die Hemdtasche.
    – Feuer ist draußen genug, sagt er und grinst Gül an.
    – Weißt du, warum die hier alle lange Haar haben?, fragt er auf einmal.
    – Wer?
    – Diese Studenten. Die linken Studenten. Nur weil man links ist, muss man nicht wie ein Mädchen rumlaufen. Ich verstehe dieses Land nicht. Sich die Haare wachsen zu lassen hat doch nichts mit Revolution zu tun. Was soll mein Kind denn hier lernen?
    Gül fühlt sich Menschen wie Yılmaz schon deshalb unterlegen, weil sie nur einen Grundschulabschluss hat. Sie weiß nicht, wie Yılmaz gerade auf dieses Thema kommt und was sie ihm nun antworten soll, ohne dass es dumm klingt.
    – Hier können die Kinder alles lernen, was sie wollen, sagt Gül.
    Sie werden nicht von der Universität verwiesen. Das sagt sie nicht.
    – Scheißegal, sagt Yılmaz.
    Er spricht mit Bedacht, und erst als er sich nun in Bewegung setzt, begreift Gül, dass Yılmaz betrunken ist.
    – Ich hatte gestern Abend runde Füße, sagt Fuat am nächsten Tag, wenn er so gegangen ist wie Yılmaz jetzt.
    – Komm, sagt Gül und legt Yılmaz einen Arm um die Hüfte, um ihm hinauszuhelfen, ohne an die Möbel zu stoßen.
    |118| Draußen stellt sie ihn direkt an den Gartenzaun, an dem sie so oft auf den Briefträger gewartet hat, und sagt:
    – Warte einen Moment hier.
    In dem allgemeinen alkoholisierten Durcheinander achtet niemand auf Yılmaz, und Gül hält Ausschau nach Saniye, die gerade kichernd einen Böller in der Hand hält und ihr Feuerzeug nicht anbekommt.
    – Saniye, sagt Gül, Saniye, dein Mann ist hinüber, vielleicht solltest du mal nach ihm schauen. Er kann kaum mehr stehen.
    – Schon wieder?, sagt Saniye und sieht Gül an. Dann blickt sie wieder auf das Feuerzeug in ihrer Rechten.
    – Um den kann ich mich jetzt nicht kümmern, soll er sich einfach hinlegen, der alte Schluckspecht. Jeden Tag dasselbe. Wenn ich einmal im Jahr trinke, will ich auch meinen Spaß haben. Was scherts mich, dass er nicht stehen kann?
    Gül schaut Saniye etwas ungläubig an, doch die lächelt, weil sie gerade dem Feuerzeug eine Flamme entlockt hat, in die sie nun die Zündschnur hält.
    Jeden Tag? Das wäre ja öfter als Fuat. Sie kann es gar nicht glauben. Saniye schmeißt den Böller weg und strahlt Gül an.
    Gül wendet ihren Blick wieder zum Zaun und sieht, dass Yılmaz sich umgedreht hat und sich in den Garten übergibt. Als wüsste sie nicht, was zu tun ist, bleibt Gül stehen, um sie herum Knallen und Pfeifen und Krachen, der Geruch abgebrannter Feuerwerkskörper, Fetzen von Stimmen und Gelächter, Schreie von Kindern. Sie weiß, dass es nur Einbildung sein kann, doch sie nimmt den Geruch von Erbrochenem wahr, obwohl sie gut fünfzehn Schritte vom Zaun entfernt steht.
    Die ganze Welt scheint in Bewegung, nur Gül rührt sich nicht. Selbst die Gedanken in ihrem Kopf scheinen stillzustehen, zwei Gedanken nebeneinander: Yılmaz trinkt. Saniye kümmert sich nicht um ihn.
    Gül sieht Ceren fröhlich kreischend ins Haus laufen, und |119| dann passieren zwei Sachen gleichzeitig: ein lauter Knall, der in Güls Ohr schmerzt, und ein Gefühl, als hätte ihr jemand auf die Hüfte geschlagen. Sie bewegt sich immer noch nicht, sondern schaut an sich runter. Aus ihrer rechten Jackentasche, die nun ein Loch hat, kommt Rauch, und es riecht nach angesengtem Stoff.
    Sie hat nicht bemerkt, dass jemand einen Knaller in ihre Jackentasche gesteckt hat. Sie könnte ein Spektakel daraus machen, sich die Hüfte halten und solche Scherze laut verdammen, doch sie

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