Heimstrasse 52
setzt sich einfach nur in Bewegung und geht zu Yılmaz, der sich gerade mit der Hand den Mund abwischt.
– Lass uns reingehen, sagt sie, ich mache dir einen Minztee.
– Darf ich zu Gesine gehen?, will Ceren wissen, und Gül antwortet: Ja, geh nur, aber denk daran, was ich dir gesagt habe.
– Ich soll nicht zu oft dorthin gehen, und ich bin spätestens um fünf zu Hause.
Gül lächelt.
– Los, los, und bring Gesine bald mal wieder mit.
Gesine und Ceren haben sich im Krankenhaus kennengelernt, als Ceren vom Auto angefahren worden war, sie lagen zu zweit in einem Zimmer. Ceren hatte nur eine Rippe gebrochen und einige Prellungen und Schürfwunden. Gesine, die in Cerens Alter ist, war auf das Waschbecken geklettert, um sich besser im Spiegel sehen zu können. Das Waschbecken hatte sich aus der Verankerung gelöst, und beim Sturz hatte Gesine sich mehrere Zehen und den Mittelfußknochen gebrochen.
Gesine ist Cerens erste richtige deutsche Freundin. Mit den deutschen Freundinnen aus der Schule trifft sie sich nicht nachmittags, sondern redet nur auf dem Schulhof mit ihnen, am liebsten aber spielt sie mit den anderen Kindern aus der Heimstraße.
|120| Doch mit Gesine ist es anders. Im Krankenhaus hatte Gesine abends, als alle weg waren, zu Ceren gesagt:
– Komm doch zu mir ins Bett, und hatte die Decke zurückgeschlagen. Ich kann mit dem Gipsfuß nicht so gut laufen.
Ceren war etwas erschrocken: Manchmal, wenn sie schlecht geträumt hatte, kroch sie zu ihrer Schwester ins Bett oder ab und zu noch zu ihrer Mutter, aber Gesine war eine Fremde.
– Komm schon, ich tue dir nichts.
Gesine deckte sie beide zu und sagte:
– Stell dir vor, wir sind in einem Urwald, auf einem Floß, nur du und ich, und wir treiben dahin. Um uns herum sind Krokodile, und wir haben Angst, deshalb atmen wir nur ganz leise und machen uns klein. Es ist heiß im Urwald, weißt du das? Weißt du, wie heiß?
Gesine zog die Decke über ihre Köpfe und flüsterte:
– Ganz leise sein. Ich sage dir Bescheid, wenn es so heiß ist wie im Urwald. Die Luft dort kann man kaum atmen.
Es war, als würden sich in der Stille und Dunkelheit nicht nur die Gerüche, sondern auch ihre Körper vermischen, als würden sie eins werden in einem Bett, dass in Wirklichkeit ein Floß war, das in einem feuchten üppigen Urwald flussabwärts glitt.
– Jetzt, flüsterte Gesine irgendwann, und Ceren konnte die Luft tatsächlich kaum noch atmen. Sie wusste nicht, wann sie schon mal einem Fremden so nah war, nicht nur körperlich.
Vorsichtig hob Gesine nach zwei, drei Minuten die Decke ein Stück an.
– Hier sind keine Krokodile mehr.
Ceren schaute auf der anderen Seite heraus.
– Hier auch nicht.
Es sind nicht nur die Krokodile fort, als sie unter der Decke hervorkommen, es ist, als wäre die Welt weniger gefährlich geworden.
|121| Dass sie gemeinsam unter der Decke waren und ihre Freundschaft auf einem Floß im Urwald umgeben von Krokodilen begonnen hat, wird Ceren ihrer Mutter erst Jahre später an einem Winterabend am Ofen in ihrem Haus in der Türkei erzählen.
In diesen Tagen stellt Ceren häufig Fragen, wenn sie bei Gesine gewesen ist.
– Mama, was essen die Deutschen zum Frühstück?
– Brötchen oder Brot, Butter, Marmelade, Käse, was sollen sie schon essen?
– Aber das essen sie doch schon abends.
– Hast du dort gegessen?
– Ja.
Gül ist verunsichert.
– Vielleicht essen sie Suppe zum Frühstück, sagt sie.
– Also doch keine Marmelade und Wurst.
– Ich weiß es nicht, sagt Gül, du müsstest Gesine fragen.
Ceren sieht ihre Mutter enttäuscht an. Gül ermuntert ihre Töchter immer, ihr Fragen zu stellen, doch manchmal ist sie um eine Antwort verlegen.
– Und ich werde Tante Tanja fragen, sagt Gül, das kriegen wir schon raus, was die Deutschen zum Frühstück essen.
Gül möchte, dass Ceyda und Ceren so viel wie möglich lernen, deswegen kauft sie ihnen Bücher, Kinderausgaben der Klassiker, gebundene Bände, die in einem großen Supermarkt bei den Spielsachen stehen, Robinson Crusoe, Die Schatzinsel, Moby Dick, Winnetou.
Ihre Töchter sollen gebildeter sein als sie, ihnen sollen mehr Tore im Leben offenstehen, weil sie mehr wissen und besser wählen können. Es erscheint ihr seltsam, dass ihre Kinder so gut Deutsch sprechen, aber nicht wissen, was die Deutschen zu Abend essen.
Und Ceren verwundert es, dass sie jedes Mal, wenn sie bei Gesine ist, merkt, dass sie bestimmte deutsche Worte nicht |122| kennt. In der
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