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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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den Schlaf nahen fühlte. Gül möchte nicht, dass er mit offenem Fenster fährt, weil die Mädchen mittlerweile schlafen und sich erkälten könnten.
    Der Rauch weckt Güls Verlangen, und sie phantasiert schon über die Zigarette, die sie an einer abgeschiedenen Ecke des Rastplatzes mit Saniye rauchen wird. Gemeinsam essen |127| die Familien etwas Brot und Käse, Oliven, Tomaten und Zwiebeln. Sevgi ist wach und weint, und während Saniye versucht, sie zu beruhigen, erzählt Yılmaz die Geschichte, wie er Saniye vor zwei Jahren mal an einer Tankstelle in Jugoslawien zurückgelassen hat. Eine Geschichte, die er häufig erzählt:
    – Ich habe getankt, als ich ausgestiegen bin, schlief Saniye auf dem Rücksitz, ich habe gezahlt, bin pinkeln gegangen, habe mich ins Auto gesetzt und bin los. Dreißig Kilometer war ich schon gefahren, als ich gemerkt habe, dass ich allein bin.
    – Und ich, sagt Saniye, ich bin aufgewacht, auf die Toilette gegangen, und als ich zurückkomme, ist der Mann weg, und ich stehe alleine irgendwo mitten in Jugoslawien, ohne Pass, ohne Geld, nur mit meinen Kleidern am Leib.
    – Sie wusste nicht, wann ich merken würde, dass sie nicht mehr da ist, fällt Yılmaz ihr ins Wort, und deswegen hat sie den nächsten Landsmann angesprochen, ob er sie mitnimmt, bis sie mich irgendwie einholen. Aber dann erkennt die Gute mich auf der Gegenspur, weil ich ja gewendet hatte, und ich denke noch: Was soll denn diese Lichthupe, was will der mir denn sagen, bis ich begriffen habe, dass in dem Auto meine Frau sitzt. Sie schlief ja, als ich ausgestiegen bin, sollte ich etwa hinten reinschauen, bevor ich weiterfahre. Und dann sage ich etwas, ich glaube, ich wollte einen Schluck zu trinken, aber sie hat nicht reagiert. Das war schon dreißig Kilometer nach der Tankstelle.
    Er wiederholt sich, denkt Gül und schaut ihm ins Gesicht. Jetzt erst merkt sie, dass Yılmaz betrunken ist. Vielleicht ist das der Grund, warum Saniye fährt. Auch Yılmaz’ Augen sind rot, und nun, wo sie darauf achtet, kann sie auch den Schnaps in seinem Atem riechen.
    Saniye steht mit Sevgi auf dem Arm auf, nickt Gül fast unmerklich zu, und die beiden gehen außer Sichtweite. Gül holt eine Packung Zigaretten aus ihrem Kleid und bietet Saniye eine an.
    |128| – Oh, Saniye stößt mit dem Rauch einen wohligen Laut aus, das tut gut nach so einem langen Tag.
    Gül genießt die Zigarette auch, schaut dann aber zu Boden, unschlüssig, ob sie die Frage stellen soll.
    – Fuat muss richtig erledigt sein, sagt Saniye, der ist ja die ganze Strecke alleine gefahren.
    An Güls Atmung oder Haltung ändert sich nichts, doch Saniye entschuldigt sich:
    – Ich will das gar nicht dir ankreiden, Gül am Steuer, das könnte ich mir nicht vorstellen. Jeder tut halt das, was er kann. Gül, lächle, morgen Nacht fahren wir, so Gott will, schon über die Grenze. Gül, so eine wie dich gibt es nicht noch mal, nicht in der Heimstraße, nicht in Deutschland, nicht in der Türkei. Schwester, wir fahren in die Türkei, und hier stehen wir mitten in Jugoslawien und rauchen gemeinsam, so lächle doch.
    Gül blickt auf, sieht Saniye an und lächelt zaghaft.
    – Wer weiß, was das Leben bringt, sagt Saniye, man kann alles verlieren, ehe man einen Lidschlag tut, hier sind wir zusammen und genießen eine Zigarette. Lass die Männer doch trinken und krakeelen, sich wichtig tun mit ihrem Geld oder ihren politischen Ansichten. So eine Freundin wie dich finde ich niemals wieder, und selbst du wirst eines Tages nicht mehr da sein.
    Güls Augen schimmern feucht im Dunkeln.
    Etwas später, als alle schon in ihren Autos sind und schlafen, schreckt Gül hoch, weil der Motor des Granada gestartet wird. Sie ist sofort hellwach, während Fuat schnarcht und auch die Kinder weiterschlafen. Leise steigt Gül aus und geht zu dem Wagen vor ihnen.
    Yılmaz liegt auf dem Beifahrersitz, Saniye, die Gül im Rückspiegel gesehen hat, kurbelt an der Fahrerseite das Fenster herunter:
    – Gottverflucht, sagt sie leise, Sevgi hat einfach keine Ruhe |129| gegeben, die hat sich anscheinend an das Geräusch gewöhnt, sobald ich den Motor angelassen habe, hat sie die Augen zugemacht. Geh du nur und schlaf, wir haben morgen noch einen weiten Weg vor uns.
    Güls Blick fällt auf die leeren Flaschen im Fußraum, aber sie tut so, als hätte sie nichts bemerkt, und geht fröstelnd zurück zum Mercedes.
    In der nächsten Nacht stehen sie an der türkischen Grenze. Fuats Augen sind auf der Strecke in

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