Heimstrasse 52
Jahr über geschieht es selten, dass alle Familienmitglieder länger als eine Stunde zusammen in einem Raum sind. Nun werden sie fast drei Tage im Auto verbringen, und wie bei jeder Fahrt in die Türkei werden sie erschöpft ankommen und wie bei jeder Ankunft wird die Freude stärker als die Erschöpfung sein.
Da biegt der Granada in die Heimstraße ein, Yılmaz am Steuer, Saniye und die fast zwei Jahre alte Sevgi auf dem Rücksitz. Als sie halten, steigen alle aus, man wünscht sich einen guten Morgen, die Frauen bitten Gott, dass ihnen die Wege offenstehen mögen, und bevor sie wieder einsteigen, kommt Tante Tanja zu dieser frühen Stunde aus ihrem Gartentor, in ihrer Hand eine Schüssel. Sie lächelt.
– Gute Reise, sagt sie. Und kommt gesund wieder. Da es sonst niemand macht, schütte ich euch das Wasser.
– Gott möge es dir vergelten, sagt Gül leise auf Türkisch, weil sie nicht weiß, wie man das auf Deutsch sagt. Auf Deutsch |125| fügt sie ein Danke hinzu und hofft, dass man ihrer Stimme die guten Wünsche anhören kann.
Tanja hat schon oft gesehen, wie ihre Nachbarn hinter Reisenden etwas Wasser auf die Straße schütten, damit diese ihren Weg so leicht finden mögen wie das Wasser. An diesem Morgen kippt sie hinter den Autos eine Salatschüssel voller Wasser schwungvoll auf die Straße. Gül dreht sich noch mal um und sieht aus dem Rückfenster die alte Dame allein auf der Straße stehen, die leere Schüssel in der Hand. Während hinter ihr langsam die Sonne aufgeht, winkt sie. Das ist ein gutes Zeichen, denkt Gül und schickt dennoch hinterher: Herr, lass uns ohne Unfall und Unheil an unser Ziel gelangen.
Kurz hinter München halten sie das zweite Mal. Ceyda und Ceren unterbrechen ihr Kartenspiel, wollen nach Sevgi schauen, ein wenig mit ihr spielen, doch die Kleine schläft auf dem Rücksitz. Als sie weiterfahren, setzt sich Saniye ans Steuer des Granada, und Yılmaz legt den Beifahrersitz zurück und schließt die Augen.
Gül weiß, dass Saniye den Führerschein gemacht hat, aber sie hat ihre Freundin noch nie fahren sehen, genauso wenig wie Fuat, dem nicht anzumerken ist, was er davon hält.
Die Schwestern nehmen ihr Spiel wieder auf. Sie sind leise, weil sie ahnen, dass laute Worte ihrem Vater ein Anlass wären, um noch lauter zu werden. Die beiden Wagen sind schon fast aus Österreich heraus, als Fuat sich gähnend eine Zigarette anzündet und sagt:
– Schau dir das mal an, wie schön die sich die Arbeit teilen, mal fährt er, mal sie. Und ich hänge nun schon seit sechzehn Stunden am Steuer, als sei ich LKW-Fahrer, mein Hintern schläft ein. Dir kann das nicht passieren, du sitzt ja weich. Diese Saniye, die hat nicht nur einen kleinen Hintern, die kann auch noch Auto fahren. Kaum fassbar, dieses Weibervolk.
Wenn er sich ein wenig aufregt, wird er wenigstens nicht |126| müde, denkt Gül. Wir sind schon so lange unterwegs, er hat recht, der Ärmste, es ist sicher nicht leicht, so lange zu fahren.
– Wie oft habe ich dir gesagt: Mach den Führerschein.
– Ich habe Angst, sagt Gül, ich kann das nicht.
– Angst, sagt Fuat, ja, Angst, sich zu verlaufen, Angst, Auto zu fahren, Angst, schwimmen zu lernen, Angst vor Hunden, Angst vor Zufällen. Die Frage ist doch, wovor du keine Angst hast. Mit Angst kann man dieses Leben nicht meistern, du musst auch mal mit dem Blasebalg auf ein Feuer zugehen wie dein Vater, du kannst nicht immer nur weglaufen, wenn es zu warm wird.
Doch wie sollte Gül Autofahren können, selbst als Beifahrerin ist sie dauernd angespannt. Wenn sie es merkt, versucht sie ihre Muskeln loszulassen, doch keine Sekunde wendet sie den Blick von der Straße oder träumt vor sich hin oder schläft gar während der Fahrt ein. Und selten dauert es länger als fünf Kilometer, bis ihr ganzer Körper wieder in Spannung ist und sie die Luft anhält, weil sie eine Entfernung zu einem anderen Auto als zu knapp einschätzt oder die Geschwindigkeit für zu hoch hält, das Überholmanöver für zu gewagt.
Mag sein, dass sie vor vielen Dingen Angst hat, aber die Fahrt ist für sie auch anstrengend. Doch vor Arbeit, Anstrengung oder gar Erschöpfung hat sie sich noch nie gedrückt. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der in der Fabrik den Ruf hat, nicht mal halb so fleißig zu sein wie seine Frau.
Erst in Jugoslawien halten sie, um einige Stunden zu schlafen. Fuats Augen sind klein und nicht nur vor Müdigkeit rot, die letzten Stunden hat er sich jedes Mal eine Zigarette angesteckt, wenn er
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