Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin
ideologisch verbohrt, dass niemand sie zu
einer Operation und Chemotherapie bewegen konnte.«
Ich war froh, dass sie nicht weiterfragte. Stattdessen massierte sie
mich wieder, inzwischen an den Schulterblättern, sie näherte sich dem Bereich,
der am meisten wehtun würde, dem Nacken. Irgendwann redete sie doch wieder.
»Wie hat dein Sohn das verkraftet?«
»Stoisch, wie ich«, sagte ich, »wir haben zusammengehalten, unseren
Zweimännerhaushalt organisiert und uns mutig gefühlt, wenn wir was taten, was
Mama missbilligt hätte. Zum Beispiel drei Abende hintereinander Pizza vom
Lieferdienst essen. Er war tapfer, er hat sich dran gewöhnt.«
»Und du? Hast du dich dran gewöhnt?«
»Nach ein paar Jahren schon. Anfangs habe ich nur so getan, als ob.
Ich musste ja gerade stehen. Er konnte doch keinen heulenden Jammerlappen als
Vater brauchen.«
»Hast du eine neue Frau gefunden?«
»Nein.«
»Auch keine Freundin?«
»Es hat sich einfach nicht ergeben. Und ich wollte ihn nicht
durcheinanderbringen. Seine Mutter war ihm heilig. Er wäre sich vorgekommen wie
ein Verräter. Und vielleicht wäre ich ihm vorgekommen
wie einer.«
»Hat dir jemand geholfen? Deine Mutter oder Schwiegermutter oder
irgendeine Tante?«
»Nein. Nur wir zwei.«
Jetzt tat es richtig weh. Ich musste mich beherrschen, dass ich
nicht jaulte. Sie war mit meinen Schultern und dem Nacken beschäftigt, drückte
mit den Daumen genau auf die Punkte, mit denen man mich in den Orkus schießen
kann.
»Ich weiß«, sagte sie, »tut weh. Muss aber sein.«
Ich atmete nur tief ein und aus, wenn der Schmerz für kurze Zeit
nachließ, und sagte nichts. Ich dachte nicht einmal darüber nach, wie wir so
einfach zum Du übergegangen waren. Plötzlich war es da. Und es fühlte sich richtig
an. Eigentlich war bis jetzt nur sie dazu übergegangen – ich schob die neue
Anrede noch vor mir her.
Und das, was ich die ganze Zeit eigentlich sagen wollte, schob ich
auch vor mir her: Ich habe um meinen Sohn nicht getrauert. Gegenüber der
Polizistin vor meiner Tür hatte ich alle Floskeln abgesondert, die sich in
solch einem Fall gehören: »Nein« und: »Ich kann es nicht fassen«, mein Gesicht
hatte sich starr und wie gefroren angefühlt, aber mein Sohn hatte mir nicht
leidgetan, und erschüttert war ich nicht von seinem Tod gewesen, sondern von
der Erkenntnis, dass er mich nicht erschütterte.
Unsere Zweimannfamilie hatte eine Zeit lang gut funktioniert. Er
vertraute mir, und ich unterstützte ihn. Wir mochten uns, wir lachten miteinander,
spielten Scrabble und Trivial Pursuit, machten Ausflüge an Orte, die ihn
interessierten, gingen in Filme, die ihm gefielen, und lasen Bücher gemeinsam.
Bis zu seiner Pubertät.
Dann begann er mich zu verachten, ich weiß bis heute nicht, weshalb,
er sah über mich hinweg, hatte ein höhnisches Grinsen auf dem Gesicht und
schwieg Löcher in die Welt, so lange, bis ich es aufgab, um ihn zu werben. Ich
hatte wieder und wieder versucht, ihn zu erreichen, seine stumpfsinnige
Krawallmusik zu ertragen, seine Schweigsamkeit zu dulden und ihn trotzdem nicht
aufzugeben.
Aber irgendwann tat ich es doch. Als ich bemerkte, dass ich nur noch
bettelte, verschloss ich mich, ebenso wie er sich verschlossen hatte, und lebte
genauso neben ihm her, ohne ihn zu beachten, wie er das schon seit langer Zeit
mit mir getan hatte. Ich war allergisch gegen ihn geworden, konnte sein
Schlurfen nicht mehr hören, seine herabhängende Unterlippe nicht mehr sehen und
seine muffige Wäsche nicht mehr riechen. Ich mochte ihn nicht mehr. Er war ein
großspuriger, verstockter und ignoranter Blödian geworden, der glaubte, mich verachten
zu dürfen, obwohl ich für ihn da war, sogar das Schreiben aufgegeben hatte.
Zumindest das richtige Schreiben, das Erfinden und Erzählen. Ich konnte ihn
nicht ernähren und kleiden und zum Schlagzeugunterricht schicken, wenn ich
Romane schrieb, von denen niemand wusste, ob sie überhaupt den Vorschuss
einbringen würden. Also hatte ich begonnen, Auftragstexte, Sachbücher, Übersetzungen
anzunehmen, denn dazu brauchte man kein Glück, es genügte, wenn man den Fleiß
aufbrachte.
Seine Mutter hatte als Dozentin an der Uni gut verdient, und ich war
der Hausmann, da ich ohnehin am Schreibtisch saß und meine Zeit einteilen
konnte. Ohne ihr Einkommen war es einfach nicht mehr möglich gewesen, dass ich
Schriftsteller blieb. Nicht mit der Verantwortung für ein Kind.
Als er mit siebzehn endlich auszog, war ich so erleichtert,
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