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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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hatte
ich alle schon nebenbei aufgegessen. Das war eigentlich zu aufwendig für mich,
aber weil wir doch gemeinsam dinierten, Isso und ich, ließ ich den Ästheten in
mir raus. Ihr Schlemmerfilet brutzelte auf kleiner Hitze vor sich hin.
    Den Fisch brachte ich als Letztes auf die Terrasse, nachdem ich die
Kruste wie besprochen abgekratzt hatte – es sah hübsch aus, ein Glas Wein, der
verzierte Linsensalat, ein Schälchen Wasser und der Fisch. Ich brauchte sie
nicht zu rufen, ich saß noch nicht richtig, da war sie schon auf den Tisch
geflogen und machte sich über das Essen her.
    »Mahlzeit«, sagte ich.
    Sie schmatzte. Und sie schnurrte beim Essen und trat mit den
Vorderpfoten kleine Dellen in die Tischplatte. Sie versuchte es zumindest.
     
    ˜
     
    Im Heizraum hatte ich eine Campingliege gesehen, als ich
mit dem Schornsteinfeger dort gewesen war, die holte ich jetzt und brachte sie
auf die Terrasse. Im Flurschrank lag ein Wollplaid, das diente mir als
Matratze, Kissen und Decke nahm ich vom Bett. Wenn mich kein Regen überraschte
und das Bettzeug ruinierte, konnte Carmen Seelig eigentlich nichts dagegen
haben, dass ich mir ein Lager im Freien aufschlug.
    Isso war nach dem Essen verschwunden. Ich schenkte mir ein zweites
Glas Wein ein, setzte mich an den Terrassentisch und ließ mich von der
nächtlichen Wärme umschmeicheln. Die Nacht war sehr hell. Vielleicht schon
Vollmond.
    Jetzt wäre ich gern Raucher gewesen. Das sanfte Aufglimmen einer
Zigarette oder Zigarre hätte noch ins Bild gepasst.
    Ich hörte ein Klavier. Das musste Carmen Seelig sein. Was sie
spielte, klang schön, von Fehlern keine Rede. Ich entdeckte jedenfalls keine.
Ich ging die halbe Strecke in Richtung ihres Hauses, um besser zu hören, und
jetzt erkannte ich auch das Stück – es war die Pathétique.
    In Seeligs Haus brannte kein Licht. Sie spielte im Dunkeln.
Vielleicht war sie ein bisschen betrunken. Wenn sie bis eben auf dem Fest gewesen
war, hatte sie vielleicht ein Glas zu viel erwischt und traute sich deshalb
jetzt noch ans Klavier.
    Ich stand weit genug entfernt zwischen den Rebstöcken, dass sie mich
auf keinen Fall als Lauscher entdecken würde. Das hoffte ich jedenfalls, ich
wollte nicht von ihr für einen Spanner gehalten werden. Sie spielte schön. Betörend
schön. Das war keine Hobby-Pianistin, das war jemand, der mit Seele musizieren
kann, weil das Handwerk ihn nicht mehr kümmern muss.
    Inzwischen spielte sie etwas von Schubert, das glaubte ich jedenfalls.
Ich ging zurück zu meinem Haus und genoss den Fluss der Töne aus der
Entfernung. Es machte mich traurig und glücklich zugleich.
     
    ˜
     
    Ich wachte immer wieder auf, aber nur um mich an der Luft
zu freuen, die ich atmete, dem Geruch und den Geräuschen der Nacht, einer
leichten kitzligen Aufregung – es fühlte sich großartig an, im Freien zu
schlafen. Isso ließ sich nicht blicken, sie hatte wohl Wichtigeres zu tun. Erst
bei Tagesanbruch biss sie mir in den Zeh, dass ich nach Luft schnappte vor
Schreck und sie viel zu laut anschrie: »Aua. Was ist denn mit dir los?«
    »War einfach zu verlockend«, sagte sie, »du hast den Zeh bewegt.«
    »Und das ist schon Grund genug, reinzubeißen?«
    »Na klar. Ich bin eine Katze. Ich hab Reflexe.«
    »Minnie hat das gemacht, als sie winzig klein war. Du bist doch
erwachsen.«
    »So erwachsen dann auch wieder nicht. Jedenfalls nicht jetzt
gerade.«
    Jetzt hörte ich das aufgeregte Krächzen eines Vogels. Das war sicher
ein Eichelhäher, der die Vogelwelt in der Gegend vor Isso zu warnen versuchte.
Dabei war sie im Augenblick nur mir gefährlich. Sie hatte noch immer diese kugelrunden
Augen, an denen ich sah, dass ihr der Sinn nach weiteren Attacken stand. Ich
hatte alles, was an mir dran war, unter die Decke gepackt, sie musste mir schon
in die Nase beißen, wenn sie irgendwas zu fassen kriegen wollte.
    »Feigling«, sagte sie.
    »Ich hab auch Reflexe«, sagte ich.
    »Mit denen würde ich nicht so angeben.«
    »Komm, lass mich noch ein bisschen schlafen. Es ist so schön hier
draußen, und es ist noch viel zu früh, um schon in Streifen gerissen zu
werden.«
    Sie saß jetzt wieder da und putzte sich, ganz die Unschuld, der man
ungerechte Vorwürfe macht. Ich ließ wohlweislich alles unter der Decke und
versuchte weiterzuschlafen.
    Irgendwann wachte ich auf, weil sie mir die Haare wusch. Dann legte
sie sich um meinen Kopf, und ich spürte ihr Schnurren.
    »Du bist süß«, sagte ich.
    »Wir können nur scharf und bitter und

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