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Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin

Titel: Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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salzig und sauer
unterscheiden«, sagte sie, »süß ist keine …«
    »Katzenkategorie«, sagte ich. »Halt die Klappe und schlaf.«
    Sie tat es.
     
    ˜
     
    Beim Frühstück in der Badewanne leistete sie mir nur kurz
Gesellschaft. Wir redeten nicht. Als sie vom Klo hüpfte, diesmal federleicht,
das konnte sie also auch, und entspannt aus dem Badezimmer trabte, zweifelte
ich wieder an mir selbst, das heißt, ich zweifelte daran, dass sie wirklich mit
mir sprach, und war vorübergehend wieder entschlossen, das Ganze als Auswuchs
meiner Phantasie zu betrachten. Aber dann kam mir ein starkes Gegenargument in
den Sinn: Sie war schlagfertig. Das bin ich nicht. Wenn alle ihre Antworten aus
meinem Kopf gekommen wären, dann hätte ich mich nicht so gut amüsiert.
    Und mir fiel ein, dass ich den ganzen gestrigen Tag weder an meinen
Verleger noch an die Schande, nicht an das Handy und nicht an die
Lebensversicherung gedacht hatte. Ich erholte mich.
    Die Kirchenglocken läuteten. Wie lange hatte ich das schon nicht
mehr gehört. Nicht dass es mir je gefehlt hätte, aber jetzt klang es doch fremd
und vertraut zugleich, wie etwas nicht gründlich genug Vergessenes, das man,
ohne es zu wissen, herbeigesehnt hat.
    Und das Licht war anders. Als ich die Campingliege wieder in den
Heizraum trug, schien mir alles weißer, heller, kühler in den Farben. War das
schon der nahende Herbst? In der Stadt wäre mir das nicht aufgefallen.
    Ich wollte meinen Artikel überfliegen. Vielleicht kam mir ja eine
Idee für den Anfang, irgendeine Anekdote, eine kleine Geschichte, die die These
umspielte, aber der Laptop war noch nicht ganz hochgefahren, als ich die Stimme
von Frau Seelig hörte. »Sind Sie da? Hallo?«
    Ich ging raus zu ihr. Sie hatte die Hand am Holzstoß und holte ihre
Zigarettenschachtel heraus.
    »Ich hatte schon Angst, Sie hätten mit dem Rauchen aufgehört, weil
ich Sie gestern den ganzen Tag nicht gesehen habe.«
    »Ich hab noch ein zweites Depot«, sagte sie, »näher am Haus. Das
kommt dran, wenn Johannes weg ist. Außerdem haben wir nachmittags schon
geprobt.«
    Hoffentlich ist das Depot nicht im Vogelhäuschen, dachte ich, sonst
müssten sie dieselbe Sorte rauchen und dürften nie nachzählen.
    »Wie hat Ihnen die Musik gefallen?«
    Ich ging davon aus, dass sie nicht das nächtliche Klavierspiel
meinte und antwortete: »Gut. Sehr gut. Mir sind ehrlich gesagt sogar fast die
Tränen gekommen.«
    Sie nahm einen tiefen ersten Zug und sah mich skeptisch an, ob ich
sie nicht vielleicht auf den Arm nähme. Dann lächelte sie, weil sie in meinem
Gesicht keinen Hinterhalt fand.
    »So ist das hier in der Kleinstadt«, sagte sie, »alle machen bei
irgendwas mit. Bei der Feuerwehr, bei der Fastnacht, beim Sozialdienst oder bei
der Musik. Ich mag’s.«
    »Das ist eine gute Kapelle«, sagte ich, »keine Schande, da
mitzumachen.«
    Sie sah ihre Zigarette an, als wäre die irgendwie von selbst in ihre
Hand geflogen, und verzog das Gesicht. »Die schmeckt noch nicht. Es ist viel zu
früh zum Rauchen.« Dann nahm sie noch einen Zug, gab der Sache eine letzte
Chance, aber es schien sich nicht zu bessern, also ging sie zum Aschenbecher
und drückte den noch viel zu langen Rest aus.
    »Ich wollte eigentlich, dass Sie mit mir rüberkommen in die Praxis.
Ich kann was gegen Ihre Rückenschmerzen tun. Wollen Sie?«
    »Ja gern«, sagte ich und dachte: sogar extrem gern, denn das
bewegungslose Liegen mit Isso am Kopf hatte mein Problem verschlimmert. Ich war
aufgewacht mit dem Gefühl, ich müsste erst mal ein paar Knochen brechen, um
überhaupt wieder halbwegs beweglich zu sein.
     
    ˜
     
    Die Praxis war ein Kellerraum mit einer Liege, einer
Kommode, einem Sitzball und einer Matte. An den Wänden hingen großformatige Drucke
von Miró, Kandinsky und Haring, und auf der Kommode stand ein kleiner CD -Player.
Ein Regal mit Handtüchern und Decken und eine Stehlampe bildeten den Rest der
schlichten Einrichtung.
    »Sie dürfen die Unterhose anlassen«, sagte sie, und ich zog mich
aus.
    »Hier«, sie deutete auf die Liege, »Nase durch das Loch und Arme
seitlich runterhängen lassen.«
    Ich tat, was sie sagte, und spürte gleich darauf ihre Hände, die
mich zu massieren begannen. Sie fing unten an, bei den Lendenwirbeln direkt
über dem Hintern, und arbeitete sich sehr langsam das Rückgrat entlang nach
oben.
    »Gut?«, fragte sie.
    »Sehr«, sagte ich, »ich könnte schnurren vor Vergnügen.«
    »Tun Sie das.«
    Jetzt fiel mir ein, dass sie sich

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