Heinrich Mueller 05 - Mordswein
geraume Zeit, bis sie bei einigermaßen klarem Bewusstsein war. Ihr war heiß. Die anfängliche Dunkelheit war verdrängt worden durch einen hellen Schein, der eine Tür aus ihrem Blickfeld ausschnitt. Zuerst hatte sie seltsame Musik gehört, ein entferntes Blechblasorchester, das sie nirgends zuordnen konnte. Dann herrschte Stille, die bald darauf abgelöst wurde durch ein unheimliches Knistern, das an Intensität zunahm, sodass es nicht die Abendsonne sein konnte, die Leonies Verlies erleuchtete.
Leonie schrie.
Leonie schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.
Die Fesseln waren längst zu Boden gefallen, aber Leonie blieb an ihren Stuhl gefesselt. Und sie schrie.
Sie verlor das Bewusstsein für Raum und Zeit, sie war unfähig zu irgendeiner Handlung.
Leonie existierte nur noch in ihrem unendlichen Schreien.
Dann zerplatzte die Tür in einem Funkenregen.
Leonie sperrte die Augen auf. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie erwartete die Feuerwalze.
Nur noch schemenhaft nahm sie die beiden Schatten wahr, die in der Tür standen.
Cäsar Schauinsland und Pascale Meyer war es gelungen, sich eine Schneise durch die brennenden Rebstöcke zu bahnen. Sie hatten sich in Asbestanzüge geworfen, die Cäsar zur Sicherheit in seinem Auto mit sich führte, wenn er eine Objektverbrennung inszenierte, denn es konnte immer etwas schief gehen. Deshalb wagten sie sich mitten ins Auge des Sturms. Sie hatten die Aktion zwar so geplant, dass die Hütte im Rebberg nicht abbrennen sollte, im Gegenteil, sie wäre als Mahnmal im verkohlten Weinberg stehen geblieben. Ob ein Mensch allerdings die Hitze und den vorübergehenden Sauerstoffmangel überlebt hätte, wussten sie nicht.
Als sie in der Tür der Hütte vor der völlig verstörten Leonie standen, suchten sie zwar nach einer Erklärung. Aber die Bergung ging vor. Die Flammen züngelten noch an den dickeren Stöcken, die Rinde und die Blätter waren schon zerstört, der Brandbeschleuniger perfekt auf die Inszenierung abgestimmt. So gelang es denn Cäsar, Leonie auf seinem Rücken aus der Gefahrenzone zu wuchten.
Seltsam war nur, dass die Polizistin und der Künstler nicht als heldenhafte Retter vor die Presse treten mochten, dass sie keine Dankesbezeugungen der Behörden annahmen und sich überhaupt verdächtig schnell aus dem Staub machten.
Sonntag, 22.8.2010
Leonie Kaltenrieder schüttelte ihre schulterlangen hellbraunen Haare, auf denen sie noch eine Ascheschicht spürte, riss einen Schmollmund und guckte aus auf das grellgelbe T-Shirt von Pascale Meyer, auf dem stand »Born in Flames«.
»Das ist das Passendste, was du gefunden hast?«
»Cäsar hat jedenfalls nicht gemeckert, und wenn einer was von Bränden versteht, dann er.«
»Von Feuer möchte ich in den nächsten 15 Jahren nichts mehr hören«, erklärte Leonie, »mit der einzigen Ausnahme von Feuerwasser.«
»Ein Widerspruch in sich«, warf einer der 49 Besucher ein, der durch ›Bauch & Kopf‹ stolperte wie durch einen gebrauchten Märchenwald.
Es hingen wirklich ein paar seltsame Verlautbarungen an den unmöglichsten Plätzen in der Kneipe:
»Auf Umwegen den Übergang suchen!«
»Naturgesetze: Keine Wirkung ohne Ursache.« (»Wie weit zurück kann man nach den Ursachen fragen?«, warf einer der ewigen Zweifler ein.)
»Es ist unglaublich, wie blöd eine Verliebte ist. Letztlich haben nur die Schlampen ein glückliches Leben.« (Kolportiert von Isabelle Adjani.)
»Früher waren wir jung, schön und doof. Jetzt sind wir nur noch doof.« (Mick Jagger zugeschrieben.)
»Ich bin ja wirklich nicht zimperlich«, sagte Melinda Käsbleich, »aber solche Sprüche können nur von Großvätern stammen.«
Phoebe blieb etwas kleinlaut, denn sie litt an einer Entzündung des Bauchnabels. Alles hatte mit 15 Jahren nach einer Blinddarmoperation und der zurückbleibenden Narbe begonnen. Seither hatte sie weiteren Körperschmuck hinzugefügt: zwei Piercingstecker am Ende der linken Augenbraue, auf derselben Seite ein Nasenring, den sie bei jeder Erkältung entfernen musste, ein tätowiertes schwarzes Röschen auf dem linken Oberarm mit einem Namen, den sie längst gern vergessen hätte.
Zu allem Unglück fehlte auch noch Gwendolin, die irgendein Windei kennengelernt hatte und sie nun offensichtlich im Stich ließ. Dafür stand unübersehbar mitten im Raum Louise Wyss und stahl mit ihrer bühnenreifen Präsenz der vor dem Feuertod geretteten Leonie Kaltenrieder die Show.
»Die Alte hat’s echt
Weitere Kostenlose Bücher