Heinrich Spoerl
jede Einzelheit in photographischer Realistik vorzuführen. Was kein Schriftsteller von Geschmack wagen würde, im Film ist es tägliches Ereignis.
Ich weiß, der Film kann nicht ohne Liebe auskommen (sagt er), und die Liebe nicht ohne Kuss (sagt sie). Es gibt sogar Filme, wo der endliche Kuss das heisserkämpfte Happyend ist, und der ganze Film nichts anderes als ein Hindernisrennen nach diesem Schlusskuss. Wenn er dann schließlich kommt, lang und deutlich, in schmusige Musik gehüllt, kann es vorkommen, daß die dazugehörigen, aber im Tonfilm fehlenden Schmatzlaute vom Publikum produziert werden. Ich meinerseits bedaure bei diesen Filmküssen immer, daß ich nicht Operateur bin; ich würde die Vorführungsmaschine so lange zum Stillstand bringen und den Großkuss so lange auf der Leinwand stehen lassen, bis es kein Mensch mehr aushalten könnte und die Zuschauer die Flucht ergriffen.
Ich persönlich habe nichts gegen den Kuss. Auch im Film ist er nicht zu vermeiden. Aber das ist kein Grund, ihn in Großaufnahme darzustellen. Wie geküsst wird, das wissen wir alle, teils aus Bilderbüchern, teils vom Hörensagen. Wir wissen auch, daß es geraubte Küsse gibt, wo er nimmt und sie nicht will, und geschenkte Küsse, wo sie gibt und er stur ist, und die normalen Küsse auf Gegenseitigkeit, kurze und lange, mit und ohne Schnurrbart, mit offenen und geschlossenen Augen. Aber das alles ist in der Phantasie viel schöner als in der Photographie. Großaufnahmen, bei denen man das Knicken der Schnurrbarthärchen und das Kräuseln der Nasenspitzen zu sehen vermeint, entzaubern die schönste Filmliebe. Die wenigen Ausnahmen, wo es einmal geglückt ist, aus dem Kuss ein künstlerisches Ereignis zu machen, bestätigen die Regel.
Die Kamera sollte genau das Gegenteil von dem tun, was heute üblich ist. Sie sollte dem Kuss nicht mit Großaufnahmen auf die Haut rücken, sondern sich im Gegenteil diskret zurückziehen, oder wenigstens im geeigneten Augenblick weggucken und so lange das Bild an der Wand betrachten oder durchs Fenster schauen, bis das Schlimmste vorüber ist. Genau wie ein wohlerzogener Anwesender es tun würde.
Überhaupt sind Küsse gar nicht zum Photographieren da. Sondern zum Küssen. Und mit diesem Trost schließe ich meine Betrachtungen: Es braucht keiner zu fürchten, daß er dabei zu kurz kommt. Küsse gehören zu den Leckerbissen, die in unbegrenzter Menge im eigenen Lande wachsen und gleich erreichbar sind für hoch und niedrig. Jeder Bedarf kann gedeckt werden. Jedes Pöttchen findet sein Deckelchen, und jedes Schnüßchen auch sein Küsschen.
Der Willi und ich
Heute kann man es ruhig erzählen. Es ist schon so lange her und gar nicht mehr wahr, und es hat auch niemand davon erfahren, außerdem war ich damals ein ganz dummer Bengel, und der Willi, der ein volles Jahr älter war, hat mich nicht abgehalten, sondern mitgemacht und ist es eigentlich auch gewesen.
Der dicke runde Turm, der unser Städtchen mit Trinkwasser versorgte, war immer schon der Brennpunkt unserer Neugier. Turm ist Turm und der Inbegriff von Ritter- und Räuberromantik. Besonders wenn er abgeschlossen ist. Das war sein besonderer Reiz. Eines Tages, als wir wieder einmal vorbeistrolchten, stand er offen. Das eiserne Türchen war frisch gestrichen, die Farbe sollte trocknen. Auf Zehenspitzen, mit verhaltenem Atem, schlüpften wir hinein, der Willi und ich, kletterten die schmale Eisentreppe empor und standen dann oben auf der Galerie über der blanken Wasserfläche. Wir beugten uns über das Geländer, lachten über unser Spiegelbild, schnitten Fratzen und streckten uns die Zunge heraus. Damit waren die Möglichkeiten unseres Vergnügens erschöpft. Geheimnisse haben wir nicht entdeckt.
»Warum schließen die immer so sorgfältig ab?«
»Mensch, das ist doch Trinkwasser. Denk mal, was da alles passieren könnte.«
»Du meinst, jemand könnte –«
»Klar. Und alles mögliche.«
Ehrfurchtsvoll blicken wir auf das Bassin. Wie viel Kubikmeter mögen das sein? Grundfläche mal Höhe – »Du Willi, hast du für den Molch schon die Strafarbeit?«
Der Molch war unser Mathematiklehrer, und die Strafarbeit hatten wir bekommen, weil wir ihm nasse Bonbons auf den Stuhl gelegt hatten. Aber er konnte uns nichts beweisen, und darum fühlten wir uns zu Unrecht bestraft und hatten eine Mordswut.
»Du –«
»Was?«
»Der Molch kriegt doch auch hiervon zu trinken?«
»Was soll das? Willst du Gift rein tun?«
»Quatsch. Gift natürlich
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