Heinrich Spoerl
dreihundertsechs. Knittel muß wieder an den Schalter. Ihm schlägt das Herz bis zum Hals. Kann man ihm etwas tun, weil er einen faulen Scheck hat?
Der Herr hinter dem Schalter ist undurchdringlich. Er sagt wieder »bitte« und schiebt ihm ein Brett hin. »Wollen Sie bitte nachzählen.«
Ein ganzes Brett voll lauter Geld.
Knittel steht davor und klappt mit den Augen. Was soll das? Haben die nichts gemerkt, oder sollte am Ende –? Er kann nicht denken, er sieht nur, daß er Geld bekommt, einen Berg, eine wohlgestaffelte Treppe von Päckchen. Merkwürdig, einer geschriebenen Zahl kann man es kaum ansehen. 1000,00 oder 10.000,00 – es liest sich beinahe gleich. Aber in grünen Päckchen auf das Tablett gebreitet ist es ein gewaltiger Unterschied. Hier ist Geld nicht mehr abstrakte Zahl, sondern greifbare Substanz, Volumen.
Knittel steht immer noch und rührt keine Hand.
»Stimmt es nicht?« fragt der Herr hinter dem Schalter.
»Doch, doch«, beeilt sich Knittel und beginnt hastig zu zählen. Seine Finger zittern, und er zählt auch gar nicht. Ihm schwirren die Gedanken. Er hat Angst vor dem Geld.
Auf die Dauer kann er hier nicht stehen bleiben. Das weiß er selbst, und von den Hintermännern wird es ihm leise angedeutet. Er weiß nicht, ob er das Geld annehmen soll oder darf oder muß, oder vielleicht nur einen Teil davon, der dem Wert des Anzuges entspricht. Darüber wird er in Ruhe nachdenken, draußen oder zu Hause. Mit unsicheren Händen nimmt er endlich die Päckchen vom Brett. Weiß nicht, wohin damit, stopft einige in die Rocktasche, in die Hosentasche, in die Westentasche. Da fällt ihm etwas Besseres ein; er holt sie wieder hervor und verstaut sie in seine Aktentasche. Zu dem grauseidenen Schlafanzug, den er darin versteckt hat.
Als er draußen ist, sieht er sich noch einmal um. Es kommt niemand hinter ihm her.
***
Abends gegen zehn, wenn die großen Bürohäuser in der City schwarz und verödet liegen und der Kurfürstendamm zum brausenden Nachtleben ausholt, gehen in den breiten Wohnvierteln des Berliner Ostens die Leute schlafen. Die langen, uniformierten Straßen sterben aus; blaß und sparsam brennen die zuckenden Gaslaternen, und die Fenster in den endlosen Häuserfronten verlöschen eines nach dem andern.
In Knittels Küche ist noch Licht. Erika hat die Kinder zu Bett gebracht und einen Pflaumenkuchen gebacken. Das große Blech steht auf einem Stuhl vor dem offenen Backofen und sendet seinen brenzlich-süßen Duft durch die Wohnung.
Knittel aber genießt in der Küche seine abendliche Feierstunde. Er hat Rock und Schuhe ausgezogen, den Kragen aufgeknöpft und die Weste über den Stuhl gehängt; nun macht er es sich auf dem Wachstuchsofa bequem, langt sich vom Küchenschrank seine Flasche Schultheiß und vom Fensterbrett seine Morgenpost. Die bescheidene Gashängelampe mit den rosa Glasperlen scheint hell auf den Tisch und das blaugemusterte Wachstuch. Seine geschwollene Aktentasche hat er wie zufällig neben sich auf dem Sofa und läßt sie nicht aus den Augen.
Jetzt ist er in Ruhe. Jetzt könnte er nachdenken und einen Entschluss fassen. Aber Erika hantiert um ihn herum und spricht über dies und jenes. Sie ahnt nicht, was für ein schicksalsschweres Problem er mit sich herumträgt.
Dann ist Erika fertig. In stiller Bewunderung betrachtet sie ihr Kuchenwerk; sie räumt noch ein bisschen auf, bindet sich die Schürze ab und hängt sie hinter die Tür.
»Männe, es ist dreiviertel elf.«
Männe hat noch keine Lust. Männe liest Zeitung.
Erika setzt sich zu ihm aufs Sofa und liest über seine Schulter mit. Sie weiß, dann hört er auf. Aber heute stört es ihn nicht. Seine Gedanken sind nicht bei der Zeitung.
»Tu das doch weg.« Sie patscht ihm das Blatt aus der Hand und kuschelt sich an ihn.
Knittel wird mißtrauisch. »Was hast du denn?«
»Nix«, sagt Erika und macht ein geknicktes Gesicht. »Es ist nur, weil doch schon der achtundzwanzigste ist.«
Knittel weiß Bescheid und ist in Gönnerlaune. »Ach so, und da hast du natürlich kein Geld mehr.«
»Doch«, behauptet Erika und fährt leise fort: »Noch zweiundsiebzig Pfennig.«
»Und weiter?« Knittel läßt sie ein bisschen zappeln und liest im Wetterbericht.
»Männe, ich meine, ob du mir nicht was leihen kannst, so von deinem Taschengeld?«
Knittel stellt zunächst die dicke Aktenmappe auf die andere Seite, dann holt er sein Portemonnaie aus der Hosentasche. »Nimm dir die zwei Mark und lass mir das Kleingeld
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