Heinrich Spoerl
rückständig, und alle Stundungen und Verlängerungen hoffnungslos abgelaufen.
»Wie ist das, Herr Kaschunke, haben wir es heute, oder geht es immer noch nicht?«
»Tun Se, wat Se müssen«, sagt der Schneider, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Knittels Augen heften sich auf das Gasbügeleisen. »Ja Mann, wenn ich aber jetzt sperren muß –«
»Weeß ick, kann ick nich mehr arbeeten. Is ooch ejal.«
Knittel sucht einen Ausweg. »Haben Sie denn keinen, der Ihnen das Geld leiht?«
»Wer soll mir armen Deubel schon Geld leihen?« Der Schneider dreht die Hose auf die andere Seite und bügelt, daß es dampft. »Lassen Se mir wenigstens det Stick zu Ende machen.«
Knittel steht traurig daneben und bringt es nicht übers Herz. Er denkt nach und fühlt unter seinem Arm die Aktentasche. Hier ist ein Vermögen, das brach liegt und keinem gehört; jedenfalls erhebt niemand Anspruch darauf. Und da ist ein Mensch, dem zum Leben dumme siebenundzwanzig Mark achtzig fehlen. Dieser Widersinn will ihm nicht in den Kopf. Er wendet sich ab, tastet mit der Hand in die Aktentasche und zieht aus einer Banderole vorsichtig einen Schein hervor, einen einzigen, dünnen Schein. »Ich kann Ihnen für ein paar Tage aushelfen. Nehmen Sie die fünfzig Mark nur ganz, ich muß sie auch ganz zurückbekommen, ich habe sie selbst nur geliehen.«
Der Schneider nimmt das Geld, er ist weder erfreut noch verwundert, er sagt nicht einmal danke; das Leben hat ihn stumpf gemacht.
Als Knittel die glitschigen Stufen wieder emporsteigt und ans weiße Tageslicht kommt, ist er sich nicht klar darüber, ob er etwas Gutes getan hat oder etwas Schlechtes.
Mit zehntausend Mark unter dem Arm – es sind nur noch neuntausendneunhundertfünfzig – sieht die Welt erheblich anders aus als mit fünf Mark Taschengeld.
Knittel hat seinen Dienst hinter sich und trödelt nach Hause. Er erblickt auf einmal Dinge, die er bisher nicht bemerkt hat, weil sie jenseits seiner Lebensmöglichkeiten lagen. Da sind zunächst die unerfüllten Knabenwünsche: Seriöse Füllfederhalter, dicke, wie sein Vorsteher einen hat, garantierte Feuerzeuge mit tausend Zündungen, schneidige Stockschirme, jedem Wetter gewachsen; sein Auge wird mutiger und bleibt an hinterradgefederten Motorrädern hängen und an schwundausgleichenden Weltempfängern und an all den anderen schönen Dingen, die jedem notwendig erscheinen, der das Geld dazu hat.
Und damit kommen unausweichlich auch die dunkleren Gedanken. Er bemerkt halbnackte Plakate mit verrenkten Damen und schwarze Toreingänge mit Täglich Tanz, er sieht geschminkte Augen, die ihn streifen, und bestrumpfte Beine, die vor ihm paradieren, er liest Möblierte Zimmer mit Nachtglocke für Tage und Stunden. Die Großstadt, die Weltstadt tut sich vor ihm auf. In seiner Mappe bauscht sich ein Vermögen. Noch weiß er nicht, ob er ein reicher Mann ist oder ein Verbrecher; vielleicht ist der Unterschied gar nicht so groß. Aber was dem Schneider recht ist, ist dem Gasmann billig. Knittel ringt mit sich und dem Teufel. Darüber kommt er an einen freien Platz und geht in die gläserne Telephonzelle. Wieder tut seine Hand einen verstohlenen Griff in die Mappe, zupft aus dem obersten Päckchen nochmals einen raschelnden Schein und ersetzt ihn durch einen schnell geschriebenen Zettel: Fünfzig Mark leihweise entnommen Knittel. Den Schein aber überführt er beklommen in sein privates Portemonnaie, das noch vierundachtzig Pfennig enthält.
Ein rasender Gedanke hat ihn befallen. Diese fünfzig Mark will er auf den Kopf hauen. Heimlich, in einer einzigen Nacht. Er will Versäumtes nachholen, er will endlich wissen, wie es tut, wenn man reich ist. Eine rauschende Nacht will er erleben, unerhört in Saus und Braus, will mit dem Geld um sich werfen und nicht rechnen und zählen. Jawohl, das will er! Und wenn die ganzen fünfzig Mark dabei zum Teufel gehen.
Am Abend um sechs, er kann die Zeit kaum erwarten, erfindet er eine Ausrede. Er hat darin keine Übung, aber Erika hat auch kein Misstrauen. »Und sei ein bisschen nett zu deinem Vorsteher und iss nicht soviel, und wenn die andern gehen, dann gehst du auch.«
Knittel verspricht alles, setzt sich in die Untergrund und fährt in den Westen.
Für den richtigen Berliner ist der Westen eine fremde Stadt. Er kommt selten dorthin, höchstens wenn er Besuch hat und den Bärenführer spielt, und dann stellt sich heraus, daß der Fremde das alles viel besser weiß.
Auch Knittel ist hier unbekannt und sicher
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