Heiratsantrag auf Portugiesisch
komplizierter würde. Anscheinend wollte er sie in eine Situation bringen, in der sie nicht mehr zurückkonnte. Aber warum?
In dieser Nacht schlief sie unruhig und unter dem Eindruck eines Albtraums: Sie saß am Steuer von Jaimes Mercedes, der plötzlich immer schneller wurde. Verzweifelt versuchte sie, den Wagen um scharfe Kurven zu lenken. Dabei war ihr bewusst, dass sie keine Kontrolle mehr über ihr Schicksal hatte und zerschellen würde.
Wie treffend dieser Traum meinen Seelenzustand wiedergibt, dachte sie am nächsten Morgen, als sie langsam erwachte und den Traum abzuschütteln versuchte.
6. KAPITEL
In der folgenden Woche war Shelley sehr beschäftigt und hatte kaum Gelegenheit, mit Jaime allein zu sein und über ihre Bedenken zu reden.
Die Condessa hatte vorgeschlagen, sie zum Kleiderkauf zu begleiten. Und so verbrachten die beiden Frauen die Vormittage in den verschiedensten Boutiquen und kehrten erst gegen Mittag nach Hause zurück.
Auch Jaime hatte zahlreiche geschäftliche Termine und kam häufig erst gegen Abend nach Hause. Oft wirkte er dann abwesend und schien mit seinen Gedanken in weiter Ferne.
Gegen Ende der Woche hatte Shelley bereits einen Großteil der Verwandtschaft kennengelernt. Stets war sie höflich empfangen worden, doch sie spürte auch die Neugierde hinter den vermeintlich vordergründigen Fragen. Bald stellte sie fest, dass nicht alle Familienmitglieder glücklich darüber waren, dass die Condessa einen Engländer geheiratet hatte. Sie fragte sich, wie man es wohl aufnehmen würde, wenn Jaime nun die Tochter ebendieses Mannes heiratete. Denn dass es dazu kommen würde, war für sie inzwischen eine Tatsache, gegen die sie sich nicht mehr auflehnte.
Eines Morgens verkündete Jaime, er habe an diesem Tag keine Termine und wolle Shelley die Stadt zeigen. Die Condessa hatte vorgehabt, am Nachmittag mit ihr eine der älteren Tanten zu besuchen, doch der Plan wurde rasch fallen gelassen. Nach dem Frühstück stieg Shelley in einem weißen Baumwollrock und einem hübschen Top neben Jaime in den Mercedes, und sie fuhren los.
Am Vormittag zeigte er ihr den Hafen und die Bastion, welche die Hafeneinfahrt bewachte. Er erzählte Anekdoten aus der portugiesischen Geschichte und brachte sie mit seinen bissigen Kommentaren über die Abenteurer, denen Portugal seinen Reichtum verdankte, zum Lachen. Sie schlenderten durch das verwinkelte Gassenlabyrinth, und als Shelley müde wurde, nahmen sie die eléctrico , die Straßenbahn, die an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten vorbeifuhr.
Shelley fühlte sich völlig entspannt in Jaimes Gegenwart und war froh, ihn einmal von seiner unbeschwerten Seite kennenzulernen. Als sich gegen Mittag ihr Appetit meldete, ging er mit ihr in ein kleines Restaurant, in dem er einen Tisch reserviert hatte. Der Kellner führte sie in eine ruhige Nische, wo sie ungestört waren.
Beim Essen erzählten sie sich aus ihrem Leben. Jaime sprach offen über sein Verhältnis zu seinem Vater und machte keinen Hehl daraus, dass er sich nicht mit ihm verstanden hatte.
„Er war einer von der alten Schule. Seiner Meinung nach sollte man von Kindern möglichst nichts sehen und nichts hören. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich ihm auf die Nerven ging. Oft bekam ich das auch mit dem Stock zu spüren.“
Er sah ihren erschrockenen Gesichtsausdruck und fügte schnell hinzu: „Die meiste Zeit war ich im Internat. Aber es schmerzte mich, zu sehen, wie unglücklich er meine Mutter machte. Als er starb, war ich erleichtert. Schockiert dich das?“
Shelley schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Mir ist es mit meiner Großmutter ebenso ergangen. Nur habe ich mir nicht klargemacht, was ihr Tod für mich bedeutete. Ich war bereits in einem Alter, in dem mich niemand mehr adoptieren wollte. Also kam ich von einer Pflegefamilie zur nächsten, bis ich endlich mit der Schule fertig war und studieren konnte. Erst später erkannte ich, dass meine Großmutter mich nie gemocht hatte. Es war nicht ihre Schuld. Sie hatte all ihre Liebe meiner Mutter geschenkt und sie verloren.“
„Aber von der Schuld, deinen Vater absichtlich getäuscht zu haben, kannst du sie nicht freisprechen.“ „Das nicht. Aber ich darf mir davon nicht das Leben zerstören lassen. Mit Verbitterung ändert man nichts.“
Jaime legte seine Hand auf ihre.
„Papa Philip war ein wunderbarer Mensch. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich nicht verbittert wurde. Er half mir, den wahren Charakter meines Vaters zu
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