Heiß wie der Steppenwind
Dunst am Morgen, wenn die Sonne den glitzernden Tau aus den Steppengräsern trank, die brausende Weite der sibirischen Ströme und die felsige Einsamkeit des Ural …
»Spielen Sie weiter, Andron Fjodorowitsch«, sagte Dobronin, als Dr. Kutjukow sich über die Balalaika beugte und schwer atmend aufhörte. Er kämpfte mit den Tränen und dachte an seine Mutter, die jetzt allein vor der ›schönen Ecke‹ kniete, das ewige Licht und die Ikone anstarrte und für ihren fernen Jungen betete.
»Verdammt, kennen Sie das Lied vom Einsamen Reiter?«
»Ja, Genosse Chefarzt.«
»Dann singen Sie es.«
Kutjukow griff in die Saiten. Dann sang er. Seine Stimme war jungenhaft hell, wie aus einem Knabenchor der Meßsänger entnommen, und sie ging so zu Herzen, wühlte so wild die Erinnerungen auf, daß Dobronin seine Haltung vergaß und beide Hände über sein Gesicht legte.
Nur Wyntok hatte wieder eine Bemerkung zur Hand. »Man sollte unserem jungen Kollegen einmal zwischen die Beine blicken«, rief er nach dem Lied. »Er singt wie ein Kastrat.«
Jeder am Tisch hätte ihn für diesen Zwischenruf erschlagen können, aber sie waren gebildete Menschen und knirschten nur leise mit den Zähnen.
Kutjukow sang weiter. Das Lied von der Schneeprinzessin. Der Kommandant des Lagers schneuzte sich, Skopeljeff weinte ungeniert und ließ schluchzend seinen Bauch hüpfen. Die Kindheit. Die warme Stube mit den papierverklebten Fenstern, der Duft von Bratäpfeln und Tataren-Hecht, von Schafskeule und Kirgiser Tomaten. Um den langen Tisch saßen sie alle, die ganze Sippe, sogar das Urgroßväterchen hatten sie aus der Kammer geholt und an der Stuhllehne mit Stricken festgebunden, weil er immer nach vorn fiel.
Wie weit lag das zurück, und was war in der Zwischenzeit aus einem geworden?
Kommandant in Workuta … Arzt in Workuta … Lagerverwalter in Workuta … Workuta!
Ein Wort, das sie alle an diesem Abend haßten, ohne Ausnahme … selbst Dr. Wyntok kam sich elend vor und besoff sich.
In der Nacht stand Dunja wieder am Fenster ihres Zimmers und dachte an Pjetkin.
Igor hatte ihr durch Marko ein Geschenk geschickt: Ein Herz aus der borkigen Rinde einer Birke. Er hatte es selbst geschnitzt, ungelenk, mit einem Skalpell, verunglückt in der Form, eine Mißgeburt von einem Herz … aber für Dunja war es die schönste Schnitzerei, nicht vergleichbar mit allen Meisterwerken. Igor schrieb dazu: »Es ist ein Rindenstück von einer Birke. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir am Amur in einer Birkengruppe lagen und voller Pläne steckten? ›Ich werde ein Mitglied der Akademie werden‹, sagte ich. ›Den Namen Pjetkin soll die ganze Welt kennen.‹ Und du hast geantwortet: ›Ich werde stolz auf dich sein und voll Triumph, daß die ganze Welt dich verehrt, aber du nur mir allein gehörst.‹ Und dann umarmten wir uns und sagten wie aus einem Mund: Ich liebe dich! – Daran soll Dich dieses Birkenherz erinnern … Erinnerung, das ist das einzige, was ich Dir schenken kann …«
Dunja stand in der Dunkelheit, das Rindenstück in den Händen, und verschmolz in Gedanken mit Igor. Es war eine Hingabe ohne Beispiel, eine stumme, regungslose Ekstase. Es war Wyntok, der sie störte. Total betrunken schwankte er über den Platz, drehte sich zweimal um sich selbst und blieb dann unter dem Fenster von Dunjas Zimmer stehen. Er schien zu überlegen, kratzte sich die Adlernase und musterte den offenen Holzladen.
Komm nicht, dachte Dunja. Sie legte das Birkenherz zur Seite und ergriff einen langstieligen Hammer. Versuche nicht, das Fenster einzudrücken und einzusteigen. Es ist die Heilige Nacht, aber ich töte dich trotzdem. Bleib, wo du bist, Nikolai Michailowitsch, rette deine Schädeldecke vor meinem Hammer. Bitte, geh weiter, Wyntok …
Dr. Wyntok schwankte hin und her. Er stolperte bis zur Hauswand, lehnte sich dort dagegen, genau unter Dunjas Fenster, und rauchte eine Zigarette. Sie hörte das Scharren seiner Stiefel und das Kratzen seines Körpers an der doppelten Holzwand. Bereit, ihm den Schädel einzuschlagen, stand Dunja seitlich des Fensters im Dunkeln.
Aber Wyntok besann sich anders. Er schaukelte weiter, hinüber zum Lazarett. Ein plötzlicher Windstoß verbarg ihn hinter einer Schneewand. Als sie zusammenfiel, war niemand mehr auf dem leeren Platz.
*
Marianka Dussowa hatte Pjetkin reichlich beschenkt. Einen seidenen Schlafanzug mit goldenen Streifen auf schwarzem Grund bekam er, ein Paar bestickte Pantoffeln aus Kasan und eine
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