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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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seiner Identitätskarte. Ich habe dem Fotografen alles geboten, was ich bekommen konnte. Ein frecher, arroganter Mensch. Weißt du, was er verlangte?«
    »Drei Pfund Fleisch«, sagte Marko.
    »Ja!« Dunjas Kopf zuckte hoch. Vor Erstaunen waren ihre blauen tränennassen Augen groß. »Woher weißt du das?«
    Marko griff in die Tasche und zog die Postkarte heraus. »Hier ist es, Dunjuschka. Es gibt immer wieder Leute, die drei Pfund Fleisch besorgen können. Der Teufel hole diese verdammten Schieber –«
    »O Marko, Marko.« Dunja drückte das Bild an sich, umarmte dann den Zwerg und küßte ihn. »Wenn es einen Gott in einem siebten Himmel gibt, darfst du einmal zu seinen Füßen sitzen.«
    Mit einem neuen Brief, in dem das Bild stak, kehrte Marko ins Männerlager zurück.
    »Jetzt bin ich bei dir …«, hatte Dunja hinter das Foto geschrieben … »immer, immer bei dir … Igorenka, es gibt keine Trennung mehr.«
    Es war das erstemal, daß Godunow einen Brief unterschlug. Er gab ihn bei Pjetkin nicht ab. Er wartete damit bis Weihnachten … und das war in fünf Tagen.

S ECHSUNDDREISSIGSTES K APITEL
    Jedes Jahr wiederholte sich das gleiche: In den Baracken brannten Kerzen, hingen geschmückte Tannenzweige, sangen die Häftlinge fromme Lieder.
    Weihnachten.
    Die Kommandanten wechselten, die Wachmannschaften, die Lagerleitung, die Kapos, die Natschalniks … das Unbegreifliche aber blieb und wurde letztlich geduldet, weil es keine Macht gab, es zu brechen: Das Gefühl der Menschen, an einem einzigen Tag ganz im Frieden aufzugehen. Ganz gleich, wo man gerade war, in einem Dorf in der Ukraine, am vereisten Ob, in einer Berghütte in Grusinien, in den Sümpfen oder an den Ufern des Don, in einer Kohlengrube oder auf dem flachen Tisch der Steppe oder hier, in Workuta, dem Sammelplatz der Toten Seelen – es gab einen Tag, der aus dem Urgrund auftauchte und herrlich in den Himmel wuchs als ein Wunder innerer Ruhe: Weihnachten.
    Es war erstaunlich, was im Laufe eines Jahres alles gesammelt worden war, um diesen Tag zu schmücken. Stanniolpapier, buntes Einwickelpapier, Farbreste, mit denen man Schnitzereien anmalte, bunte Bänder, Girlanden aus auseinandergerupften Papiersäcken, eingefärbte Lumpen, geflochtenes Stroh, getrocknete Sommerblumen … aus hundert Verstecken tauchten die Kostbarkeiten plötzlich auf, die kahlen, stinkenden Innenräume der Baracken verwandelten sich zu Festsälen, in den Augen der Sträflinge glühte eine gefährliche Freude auf, gefährlich deswegen, weil die Barackenkapos zunächst das Schmücken verboten, die ersten Girlanden herunterrissen und dann mit weichen Knien erleben mußten, daß selbst ihre Freunde, die Blatnyje, die Schwerverbrecher, Diebe, Sexualtäter, Räuber und Totschläger sich um die mit Bändern, Stanniolkugeln und Watte geschmückten Tannenzweige setzten und zu singen begannen. Die Ssuki, die ›Hündinnen‹, Vertrauensmänner des KGB, hielten sich zurück, merkten sich die Eifrigsten unter den Feiernden und schrieben alles auf. Was nutzte es? Weihnachten war stärker als die Angst im Nacken. Am Heiligen Abend lag ein Frieden über dem Lager, der alle ergriff. Nur im Frauenlager arbeitete die Wäscherei weiter, mit halber Besetzung, die Laugen dampften, die Kessel brodelten. Ein Symbol der Macht.
    Dunja und die anderen Ärztinnen und Ärzte saßen im Kasino zusammen mit den Offizieren und tranken Krimwein und Wodka. Von Weihnachten sprach keiner, dieses Wort war gestorben … aber diesem unausweichlichen dunklen Drang folgend waren sie alle zusammengekommen und hockten ziemlich versonnen vor ihren Gläsern. Dobronin nannte es ›Kollektive Geselligkeit‹, aber der einzige, der nicht ein heimliches feierliches Gefühl spürte, war Dr. Wyntok. Laut erzählte er Unterleibswitze, lachte am meisten darüber und schwieg erst, als Dobronin mit düsterer Miene sagte: »Nikolai Michailowitsch, halten Sie endlich das Maul. Sie bespritzen uns alle mit Ihrer geistigen Onanie …«
    Es war der junge Dr. Kutjukow, der seine Balalaika auf den Schoß nahm und die Sehnsucht greifbar in das Kasino und die Herzen holte. Er spielte längst vergessene Volkslieder, und plötzlich roch man die aufgebrochenen Felder, die Blüten der Birken, den süßen Duft des Steinklees, das Schilf am Flußufer … man sah die wogenden Felder von Sonnenblumen und Mais, die unendlichen Wälder der Taiga, das wogende Blumenmeer der Steppe unter der Junisonne, die Schilfdächer der Häuser am Don, den violetten

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