Heiß wie der Steppenwind
an, im Bett.«
»Kramer … so etwas mag in Rußland möglich sein, in Kischinew oder Bumsibeff … aber nicht bei mir! Der Patient liegt auf dem Tisch und ich stehe allein da! Wer soll assistieren?« Weberfeld begann zu brüllen. »Unerhört ist das! Wenn das publik wird …«
»Wir müssen anfangen, Herr Professor –«, sagte Pjetkin ruhig. »Der Gallensaft fließt unaufhörlich aus …«
»Allein?!« Weberfeld rollte mit den Augen. »Sie … Sie … Idiot!«
»Wenn Sie gestatten, mache ich die Galle allein.«
»Sie? Allein? Mit Kischinew-Examen?! Sie sollten sich psychiatrisch untersuchen lassen.«
»Ich habe vor kurzem noch einen Trendelenburg gemacht …«
»Was haben Sie?« Professor Weberfeld blinzelte ungläubig gegen das Deckenlicht. »Einen Trendelenburg? Sie? Und –?«
»Der Patient lebt und ist Abteilungsleiter im sowjetischen Innenministerium.«
»Kommen Sie!«
Sie liefen zum kleinen OP und blickten durch die Scheibe, die Waschraum vom Operationssaal trennt. Die Frau lag abgedeckt und narkotisiert auf dem Tisch. Hinter ihrem Kopf saß der Anästhesist und kontrollierte Atmung und Puls. Die OP-Schwester hatte gerade die Zusammenstellung der Instrumente beendet.
Es wurde eine Operation, bei der Pjetkin operierte und die Galle entfernte und Prof. Weberfeld ihm assistierte. Eine schnelle Operation, eine Artistik der Finger. Als ein Pfleger die Patientin aus dem OP rollte, zog Prof. Weberfeld seine Handschuhe aus und warf sie auf den Steinboden. Er war beeindruckt und versuchte, das nicht zu zeigen. Ein Ordinarius für Chirurgie ist nie beeindruckt.
»Wo haben Sie diese Schnitt-Technik gelernt?« fragte er.
Pjetkin wusch sich die Hände. »In Bumsibeff –«, sagte er.
»Danke.« Prof. Weberfeld wurde rot. »Ich verstehe –«
Zu Hause holte er sich noch in dieser Nacht den Schulatlas seines Sohnes Holger ins Arbeitszimmer, nahm einen Rotstift und malte einen Kreis um die Stadt Kischinew.
»Was soll das, Manne?« fragte seine Frau, die ihm über den Schultern zusah.
»Ein Orden für Kischinew. Man sollte unsere jungen Ärzte dort zwei klinische Semester studieren lassen …«
*
Pjetkin wurde Stationsarzt, half Prof. Weberfeld bei den großen Operationen und zog sich damit automatisch die Mißgunst aller Oberärzte und Assistenten zu. Vor allem Dr. Brommer fühlte sich auf die Füße getreten.
»Das habe ich gern«, sagte er laut im Ärztekasino. »Kommt da einer aus Sibirien, wo man sich die Scheiße als Eiszapfen vom Schließmuskel brechen muß, und drängelt sich bei dem Alten untern Kittel. Meine Herren, sollen wir uns von einem Russen düpieren lassen?«
Man gab Dr. Brommer recht – aber man wurde sich über eine Aktion gegen Pjetkin nicht einig. Alles, was man gegen ihn unternehmen würde, fiel letztlich auf die Kranken zurück.
»Schneiden wir ihn einfach«, schlug Dr. Brommer vor. »Er ist Luft für uns. Sehen wir durch ihn hindurch. Er soll merken, wie wir über die Russen denken.«
So wurde Pjetkin isoliert. Er merkte es gar nicht. Er lebte bereits in einer eigenen Isolation, aus der er nur herauskroch, um den Kranken zu helfen. Drei Monate hatten ihm genügt, seine neue Welt zu erkennen.
Den goldenen Westen. Das gelobte Land. Es kotzte ihn an. Zu Beginn des vierten Monats – es war der Juli – traf Markos erster Brief ein. Aus Helsinki. Die Brücke war hergestellt. Marko schrieb:
»Mein Igorenka, mein geliebtes Söhnchen, Gott segne Dich! Ich hatte Dich aus den Augen verloren, aber nun weiß ich, wo Du lebst. In Köln. Aus den Zeitungen weiß ich das, und das kommt so: Ich betreue Leichen, mußt Du wissen. Ich putze sie heraus, schmücke sie, präsentiere die lieben Toten den Hinterbliebenen, und sie sind ergriffen und begeistert, wie schön Väterchen oder Onkelchen aussieht und diskutieren, wie das Lächeln auf die Lippen von Tante Marfa kommt. Sie heißen hier in Finnland natürlich nicht Marfa, sondern anders, aber es sind Namen, die eine vernünftige Zunge nicht aussprechen kann. Vor einem Monat begruben wir einen Zeitungshändler, und als die Witwe ihn im Blumenschmuck liegen sah, erkannte sie ihn kaum wieder. Dann beruhigte sie sich, betrachtete sich ihren Mann und sagte zu mir: ›So gut rasiert habe ich ihn zeit seines Lebens nicht gesehen. Wie kann ich Ihnen danken?‹ Und ich habe geantwortet: ›Mütterchen, wenn Sie mich täglich die deutschen Zeitungen durchblättern lassen, die Sie in Ihrem Kiosk feilbieten, dann ist alles damit beglichen.‹ Das war ein
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