Heiß wie der Steppenwind
du mußt etwas tun. – Er tat etwas. Er bewarb sich in West-Berlin um eine Stelle im Robert-Koch-Krankenhaus, die im Ärzteblatt ausgeschrieben war, eine Assistentenstelle in der Abteilung Unfall-Chirurgie. Poliklinik eingeschlossen.
Er wurde angenommen und überbrachte Prof. Weberfeld seine Kündigung. Da er immer noch im Probevertrag war, mußte man ihn gehen lassen.
»Ungern –«, sagte Weberfeld. »Ich wollte Sie bei mir aufbauen, Dr. Kramer. Nicht überhastet … kontinuierlich, verstehen Sie? Vielleicht ein Denkfehler, aber wer immer nur mit deutschen Assistenten zu tun hat, wickelt sich in Mißtrauen ein. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Meine Ahnung sagt mir, daß wir noch manches von Ihnen hören werden. Ich werde Sie Prof. Limbach in Berlin wärmstens empfehlen.«
Und plötzlich war Pjetkin verschwunden. Wolkin, der ihn noch dreimal suchte, erhielt immer die gleiche Auskunft: Unbekannt verzogen. Er hat eine neue Stelle, der Dr. Kramer. Wo? Darüber könne man keine Auskunft geben. Wolkin versuchte alles. Beim Einwohnermeldeamt, mit einem Zahlungsbefehl, denn die Gerichte wissen schon, wohin sie ihre Schreiben schicken müssen, er ließ keinen Trick aus … Die Mauer, gegen die er prallte, war unzerstörbar. Nicht ein Steinchen fiel heraus.
»Jetzt ist er vom Fenster«, sagte in Pullach Oberst von Bargent zufrieden. »Das KGB knirscht mit den Zähnen, daß ich es bis hierher höre. Wir müssen nur aufpassen, daß er keine neue Dummheit macht. Es gibt zwei Sorten von Verrückten, die ungemein gefährlich sind: Verliebte und Weltverbesserer. Pjetkin ist beides. Wir müssen ihn wie eine Känguruhmutter im Sack halten, bis er selbständig laufen kann …«
Wahrhaftig: Das KGB verlor Pjetkin aus den Augen. Vorläufig wenigstens.
»Ich habe so etwas geahnt«, sagte in Moskau Jakow Starobin. Er war durchaus nicht an einer Fischgräte erstickt, sondern erfreute sich bester Gesundheit und hatte vier Pfund zugenommen. Außerdem erwartete seine Frau ein neues Kind, das Starobin, wenn es ein Junge wurde, Igor nennen wollte. Er überlegte blitzschnell, wie er jetzt Pjetkin und Dunja vor der Vernichtung retten konnte, und er fand einen simplen, logischen Satz, der Pjetkin aus allen Racheplänen hinauskatapultierte: »Da haben wir's – als er die Mädchen im Westen gesehen hat, war Dunja vergessen. Es ist erstaunlich, wie schnell das Dekadente einen Menschen aufsaugt, sogar einen Pjetkin …«
N EUNUNDVIERZIGSTES K APITEL
Wer zum erstenmal an der Berliner Mauer steht und über die Betontafeln und den Stacheldraht in jenes andere Land blickt, das auch Deutschland heißt, den beschleicht ein bedrückendes Gefühl. Er spürt etwas von den Ungeheuerlichkeiten, zu denen Menschen fähig sind, wenn politische Ideen sich statt Vernunft ins Hirn einnisten. Mit über 55 Millionen Toten ist der letzte Weltkrieg bezahlt worden, aber geändert hat er bei den Menschen nichts.
Pjetkins erster Spaziergang in Berlin führte ihn an die Mauer. Er blieb ein Stück vor ihr stehen und betrachtete sie mit gesenktem Blick. Dort drüben, dachte er, sitzen Major Plochow und Haberlandt. Dort beginnt eigentlich schon Rußland, wenn man politisch übersteigert denkt. Rußland … so nah, so greifbar, ein paar Sprünge weit … und doch für immer verschlossen. Dort drüben beschäftigen sie sich jetzt mit mir, suchen mich, verfluchen mich … und ich stehe hier und habe Sehnsucht nach den Steppenufern des Amur und nach den Rosengärten von Kischinew …
Er blieb lange an der Berliner Mauer, ging vor ihr hin und her, blieb oft stehen und blickte auf die Dächer der Häuser im anderen, verschlossenen Land.
An Marko hatte Pjetkin ein Telegramm geschickt. »Bin in West-Berlin. Robert-Koch-Krankenhaus. Was hörst du von Dunja?«
Und am nächsten Abend hörte er Markos Stimme im Telefon, aus Helsinki, diese vertraute, leicht heisere, immer zu Streit bereite Stimme:
»Söhnchen, sie lebt wie eine Fürstin. Alle lieben sie. Sie hat alles versucht, was möglich ist, aber so frei sie lebt, ein unsichtbarer Ring ist um sie gelegt. Eine Ferienreise nach Finnland ist abgelehnt worden, mit mir zu telefonieren, wäre verdächtig … so schreiben wir uns in langen Abständen dumme Briefe, die nur einen Sinn haben, wenn man die Worte übersetzt wie aus einer fremden Sprache. Igorenka, was hast du vor? Warum bist du in Berlin? Ob in Köln oder Berlin … Leningrad ist unerreichbar. Fällt dir etwas ein?«
»Mir wird etwas einfallen«, sagte Pjetkin.
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