Heiß wie der Steppenwind
Prof. Weberfeld vor, bezog sein Apartment im Ärztehaus und durfte vor Antritt seines Dienstes nach Lemgo fahren.
Dort stand er am Grabe seiner Eltern und blickte auf die Namen, die auf den kleinen Steintafeln standen. Sie waren ihm fremd, aber als er in diesem Augenblick an das Doppelgrab in Kischinew dachte und an die Namen Irena Iwanowna und Anton Wassiljewitsch, begann sein Herz zu zucken und zu schmerzen.
Aus Höflichkeit legte er einen Kranz mit Frühlingsblumen an den Grabstein der Eheleute Kramer und ging dann. Er betete nicht, denn ihm war nicht danach zumute, hier mit Gott zu reden. Er wußte, daß das furchtbar war, und er wollte sich zwingen, zu Elisabeth Kramer Mutter und Peter Kramer Vater zu sagen … es kam ihm nicht von der Zunge.
Als er den Friedhof verließ, schwankte er etwas. Er trug eine Leere mit sich, die ihn erschreckte.
Dort liegen meine Eltern, dachte er. Ich bin ihr Sohn. Hans Kramer. Ich bin Deutscher, weil sie, an die ich keine Erinnerung mehr habe, mich gezeugt und geboren haben. Darum bin ich Deutscher. Muß ich Deutscher sein. Darf ich nicht bloß ein Mensch sein.
Ist dieses Leben nicht idiotisch?
Am Ausgang machte er wieder kehrt und ging zum Grab zurück.
»Verzeiht mir, Elisabeth und Peter Kramer –«, sagte er – »ich kann nicht mich und euch auch belügen. Ich bin euer Sohn … aber meine Heimat ist Rußland. Ich bin mehr ein Pjetkin, als ein Kramer. Geboren sein ist nicht wichtig … das Leben ist alles.«
Noch einmal wurde der Fall Dr. Kramer hochgespielt in Presse und Fernsehen, als Pjetkin in Köln seine Stelle antrat. Prof. Weberfeld war dieser Rummel unangenehm. »Wir wollen keinen Star züchten«, sagte er zu seiner Frau. »Im übrigen muß der junge Mann erst einmal zeigen, was er kann. Sowjetische Ausbildung … meine Liebe, ich bin da sehr kritisch.«
Es entwickelte sich alles so, wie Starobin, Oberst Baranurian, Haberlandt in Ost-Berlin und Major Plochow vom KGB vorausgesagt hatten: Pjetkin geriet in die Kritik einer selbstsicheren, sich selbst aufgeblasenen, bornierten, hochnäsigen Welt. Die Gesundheitsbehörden tolerierten sein sowjetisches Arztdiplom nur, weil es der BND so empfahl. Das umgeschriebene Examen aus Ost-Berlin beachtete man überhaupt nicht, und wenn, dann belächelte man es. Prof. Weberfeld drückte es so aus, beim abendlichen Essen in seiner Villa in Lindenthal: »Ein exotisches Diplom … als wenn man einem Zuckerrohrpflücker bescheinigt, er könne die Machete schwingen. Staatsexamen und Promotion in Kischinew … mein Gott, das klingt wie 1001 Nacht. Gib mal den Atlas von Holger her, Mathilde. Wollen doch mal sehen, wo dieses Kischinew überhaupt liegt.«
So wurde Pjetkin auch in den ersten Wochen behandelt. Man beobachtete ihn und erst, als Pjetkin bewies, daß er eine Injektion setzen konnte, ohne den Patienten zu ermorden, daß er einen Verband anlegen konnte, ohne daß der Verletzte erstickte, daß er sogar ein Skalpell zur Spaltung eines Furunkels halten konnte und den Kranken nicht gleich köpfte, teilte man ihn als Hilfe dem Stationsarzt Dr. Brommer zu, der ihn mit: »Guten Tag, Kollege Dawai-Dawai« begrüßte und selbst fünf Minuten über diesen dämlichen Witz lachte.
Pjetkin ertrug alles. Dr. Brommer beschäftigte ihn mit Handreichungen, die er ›die Grundlage der Medizin‹ nannte. So wurde Pjetkin ein besserer Heilgehilfe. Er badete die Kranken, kämmte ihnen die Haare, rasierte sie, schnitt ihnen die Finger- und Fußnägel. Ein Pißpottschwenker. Ein Pfannenträger.
Nur in einem erwarb sich Pjetkin die Liebe aller Kollegen: Er übernahm klaglos jeden Nachtdienst.
Das ging zwei Monate so, bis Prof. Weberfeld nachts zu einer durchbrochenen Galle gerufen wurde. Pjetkin hatte die Notaufnahme vorgenommen, den Durchbruch diagnostiziert und den Chef angerufen. Für die Operation ließ er den kleinen OP herrichten.
Weberfeld erschien nach zwanzig Minuten, mit großer Geste, den aus dem Schlaf Geschreckten spielend. »Sind Sie sicher, daß es ein Durchbruch ist, Kramer?« fragte er. »Erkennen Sie das?«
»Ich möchte Ihrer Diagnose nicht vorgreifen, aber ich glaube, daß die Galle geplatzt ist.«
»Wo liegt die Patientin?«
»Auf dem OP-Tisch. Bereits narkotisiert.«
»Sind Sie verrückt?« Prof. Weberfeld holte tief und saugend Atem. »Schon in Narkose? Und wer hat sie gegeben?«
»Dr. Bertram.«
»Was? Als Anästhesist macht er diesen Blödsinn mit? Wo sind Oberarzt Dr. Falcke und Dr. Hanselmaier?«
»Ich nehme
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