Heiß
und ging zurück in die Bibliothek. Dann setzte sie sich an ihren Laptop und rief eine Mathematikseite auf, wählte die geometrische Sektion und da wieder den Körper »Pyramide«. Eine Liste von Formeln sprang sie förmlich an: Mantelflächenberechnung, Längenberechnung der Steilkanten, Gesamtkantenlänge, Volumen einer Pyramide. Lösungsgleichungen, Satz des Pythagoras.
Professor Siegberth setzte ein Lesezeichen und lehnte sich zurück. Zahlen als Hinweise? Oder war sie auf einem ganz falschen Weg, und die Pyramide selbst war das Stück eines Puzzles, in das sie sich nahtlos einfügte und so das Bild komplett machte? War der gläserne geometrische Körper nur der Schlussstein einer noch viel größeren Pyramide? Und wenn ja, wo war die zu finden?
Sie stand auf und trat an die Regale der Bibliothek, in denen sich ohne erkennbares System die verschiedensten Werke aneinanderreihten. Seltene Erstausgaben der Werke Molières standen neben alten Michelin-Reiseführern der Schweiz, die gesammelten Romane Maurice Leblancs neben den Novellen und Erzählungen von Arthur Schnitzler. Siegberths Finger strichen über alte Ledereinbände. Je länger sie die Titel und Namen der Autoren las, hin und wieder ein Buch herauszog, um das Ausgabedatum zu kontrollieren, umso deutlicher kristallisierte sich das Bild eines Büchersammlers heraus, der weder Kosten noch Mühen gescheut hatte, um seiner Leidenschaft zu frönen. In einem schmalen Regal waren ausschließlich Tagebücher aufgereiht, Hunderte private Aufzeichnungen prominenter Persönlichkeiten, aber auch Kriegsnotizen und Lebenserinnerungen von Unbekannten.
War Konstantinos selbst Sammler und Jäger kostbarer Bücher? Sein Vater Savvas hatte wohl den Grundstock gelegt, aber Siegberth fragte sich, ob der Sohn die Leidenschaft geerbt und die Bibliothek nicht nur übernommen hatte, sondern den Bestand auch heute noch ständig erweiterte.
Und woher hatte er die seltsame Pyramide?
Die Wissenschaftlerin wandte sich wieder dem Tisch zu, auf dem neben dem geometrischen Glaskörper der mattglänzende Metallzylinder stand. Die Verpackung des Rätsels. Siegberth ergriff ihn und betrachtete ihn unter dem Vergrößerungsglas. Im Gegensatz zur Pyramide war er nicht so genau und makellos gefertigt. An der Außenseite zeugten Spuren der Drehbank davon, dass er wohl aus dem Vollen gefräst worden und nicht sehr sorgfältig versäubert worden war. Ein Einzelstück, ohne Zweifel auf Maß gemacht, um den Glaskörper zu schützen und zu bewahren. Der Schraubverschluss, massiver als nötig, enthielt keine Dichtung. Warum auch, dachte sich Siegberth, Feuchtigkeit kann Glas nichts anhaben. Der Zylinder sollte die Pyramide zweifelsohne vor mechanischer Beschädigung schützen, was ihm wohl auch gelungen war.
Sie blickte hinein. Auch hier ein paar Kratzer, ein wenig Schmutz und Staub. Keine Aufschrift, keine Zeichnung, keine Buchstaben oder Zahlen. Die Abmessungen des Metallbehälters waren genau auf die der Pyramide abgestimmt. Kein Millimeter war verschenkt worden. Vier Führungsrillen an der Innenseite, in die die Ecken der Pyramide genau passten, sorgten dafür, dass der Glaskörper nicht verrutschen konnte. Eine Aussparung im Deckel nahm die Spitze auf. Genial gelöst, dachte Siegberth, und einwandfrei umgesetzt, angesichts des Zeitdrucks und wohl auch der psychischen Belastung im Berlin der letzten Kriegsmonate. Wer immer Pyramide und Zylinder gefertigt hatte, er musste ein erfahrener Feinmechaniker gewesen sein.
Aber eine verschlüsselte Nachricht in der Pyramide? Hätte es 1945 nicht andere Methoden gegeben, um etwas zu codieren? Verlässlichere, einfacher zu entschlüsselnde?
Die Wissenschaftlerin gab den Begriff »Pyramide« in die Suchmaschine ein und durchforstete die Resultate ohne nennenswerte Erfolge. Nach einem kurzen Anklopfen öffnete sich die Tür, und Konstantinos‘ Mitarbeiter stellte ein Tablett mit Mineralwasser, verschiedenen Fruchtsäften und Gläsern auf den Tisch. »Wünschen Sie sonst noch etwas? Vielleicht einen kleinen Snack? Herr Konstantinos hat mir mitgeteilt, Sie würden beide um 14 . 00 Uhr auf der Terrasse einen leichten Lunch einnehmen. Haben Sie irgendwelche Wünsche an die Küche?«
Siegberth schüttelte etwas abwesend den Kopf. »Danke, aber ich bin überzeugt, dass der Koch das Passende zusammenstellen wird. Und bis dahin bin ich bestens versorgt«, meinte sie, wies auf das Tablett und wandte sich wieder dem Laptop zu.
Chinesische Pyramiden, ein
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