Heiß
wir noch ein wenig Zeit. Fangen wir also bei den Kalash und Shah Juan an. Er war ein Künstler, der die Legenden und Mythen seines Volkes in seine Werke verpackte. Richtig?«
Salam nickte. »Aber auch ein gemäßigter und liberaler Politiker der Region, ein Fürsprecher der Kalash, ein weltgewandter Redner und guter, verlässlicher Freund.«
»Aber man hat ihm die Hände abgehackt.« Finch dachte laut nach. »Man wollte ihn nicht am Reden hindern, sondern daran, sein aktuelles Werk zu vollenden. Oder ein weiteres zu beginnen.«
»Der Tradition der Kalash nach wird das geheime, höchste Wissen weder niedergeschrieben noch erzählt. Es wird verschlüsselt«, erklärte Salam. »Juan wählte seine Figuren, um so das Wissen der Kalash weiterzugeben. Andere hätten vielleicht Stoffe, Bilder oder Teppiche gewählt.«
»Als wahrer Eingeweihter seines Volkes konnte er also das Geheimnis gar nicht preisgeben«, stellte Llewellyn grimmig fest. »Schon gar nicht an Fremde. Wenn sich diese Ignoranten vorher schlau gemacht hätten, wären sie zu Hause geblieben, anstatt der ISI in die Hände zu spielen und unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Was für eine Blamage. Der Inbegriff einer dilettantischen Aktion!«
»Das kann doch nicht so schwer sein! Es geht um ein paar Hundert Menschen, verteilt auf drei Hochtäler im Hindukusch!« Die Frustration war aus Finchs Stimme klar herauszuhören. »Was um Gottes willen sucht eine Handvoll britischer Geheimdienstagenten so Wichtiges bei denen?«
Er schlug mit der flachen Hand auf die Sitzlehne vor ihm.
Alle drei Männer schwiegen, in Gedanken versunken, während Amber die Ju 52 in eine leichte Linkskurve legte. »Wir überfliegen gleich die französische Küste!«, rief sie aus dem Cockpit. »Vor uns liegt Dieppe.«
Das Dröhnen der Motoren der alten Maschine hatte etwas unerhört Beruhigendes. Finch sah aus dem Fenster auf die Hafenstadt mit ihren langgestreckten Docks hinunter, die langsam unter ihnen hinwegglitt. Irgendwo musste es doch eine Lösung geben!
»Unter Umständen hängt es mit der Geschichte der Kalash zusammen, und wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht«, meinte Salam schließlich leise.
Finch ließ sich in einen der Sitze fallen und seufzte. »Kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber lasst es uns versuchen. Juan hat Ihnen immerhin einiges erzählt, also wissen Sie sicher mehr als wir.«
Der Chief Inspector dachte kurz nach, dann begann er zu erzählen. »Die Kalash und ihre Kultur sind einzigartig und unterscheiden sich gänzlich von den verschiedenen ethnischen Gruppen, die rund um sie leben. Sie haben ein polytheistisches Weltsystem aufgebaut, in dem die Natur eine wichtige Rolle spielt. Die noch verbliebenen Kalash leben in drei Hochtälern bei Chitral. Ihre Mythologie und Folklore wurde immer wieder mit der des alten Griechenlands verglichen.«
»Griechenland?« Llewellyn runzelte die Stirn. »Etwas weit hergeholt, scheint mir.«
»Nicht unbedingt«, fuhr Salam fort. »Anthropologen sind von den Wurzeln der Kalash fasziniert. Es gibt in den drei Hochtälern überdurchschnittlich viele Menschen mit blonden Haaren, heller Haut und grünen oder leuchtend blauen Augen. Ihre Sprache gehört zur indoiranischen Sprachgruppe. Den Legenden und ihrer Tradition nach bezeichnen sich die Kalash als Nachfahren von Alexander dem Großen.«
John Finch sah Salam verblüfft an. »Wir reden von
dem
Alexander den Großen? Dem jungen König, genialen Feldherren und Eroberer?«
Der Chief Inspector nickte. »Die Kalash behaupten, sie seien die letzten Nachfahren jener Krieger, die Alexander auf seinem großen Indienfeldzug begleitet hatten, bis in den Punjab vordrangen und in der Stadt Alexandria, die heute Uch Sharif heißt, zurückgelassen wurden. Alexander musste heimkehren, versprach aber seinen Getreuen, wiederzukommen und den Eroberungsfeldzug in Asien weiterzuführen. Doch nur wenig später starb er im Alter von dreiundreißig Jahren in Babylon, vermutlich wurde er vergiftet.«
»Und kehrte daher nie mehr zurück«, ergänzte Llewellyn ironisch. »Seine Krieger wanderten mit den Jahrhunderten nordwärts, vielleicht aus politischen Zwängen, angefeindet durch jene Stämme, die sie unterworfen hatten, bis in den abgelegenen und menschenleeren Hindukusch.« Er schüttelte den Kopf. »Eine nette Geschichte, die auf Legenden, Mythen und Märchen basiert. Aber nichts Handfestes.«
»Vielleicht doch nicht ganz«, gab Salam zu bedenken. »2002 fanden Forscher heraus,
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