Heiß
flog damals für eine Frachtfluglinie Versorgungsgüter nach Algier, beinahe jeden Tag. Das Land war nach acht Jahren erbarmungslosem Krieg ausgeblutet, fast alle Ausländer waren entweder geflüchtet oder ermordet worden, ihre Güter verwüstet, ihre Arbeiter erschlagen. Gruppen von marodierenden Anhängern der FNL zogen mordend durch die Straßen, mit Macheten und Knüppeln bewaffnet. Sie machten Jagd auf Harkis und deren Familien, auf Kollaborateure, wie sie es nannte, auf alles, was auch nur im Entferntesten an den verhassten Kolonialstaat und die Franzosen erinnerte. Die Stadt brannte an allen Ecken und Enden, ein Terrorregime feierte seine Revanche und nahm blutige Rache. Niemand flog damals gern nach Algier, also nahm ich den Auftrag an. Er war gut bezahlt und ich noch neu in Afrika. Und verdammt jung …«
Sein Gegenüber sagte nichts und hörte mit leuchtenden Augen zu. Sie ließ seine Hand nicht los.
»Dann kam der Tag, an dem plötzlich ein alter Mann in Algier neben dem Flugzeug stand, ein kleines Mädchen an der Hand.«
»Mein Vater«, murmelte Dr. Mokhtar. »Er sah nur alt aus, war in den wenigen Jahren des Krieges grau geworden. Er war Anwalt in Algier gewesen, glaubte an eine Zukunft in blau-weiß-rot und wurde bitter enttäuscht. Schließlich verlor er von heute auf morgen alles, auch seinen Glauben an das Gute. Meine Mutter war bereits bei meiner Geburt gestorben, und so hatte er nichts mehr, was ihn hielt. Er nahm mich an die Hand und versuchte, sich zum Flughafen durchzuschlagen, ohne den FLN -Patrouillen in die Hände zu fallen. Ganz gelang ihm das nicht. Zwei Anhänger erkannten ihn und prügelten auf ihn ein, bis er sich losreißen konnte.«
»Ich sehe ihn vor mir, als sei es gestern gewesen«, murmelte Finch. »Er stand da und starrte mich an, während ihm das Blut über die Wange rann. Die Hitze war unerträglich, und Fliegen schwirrten um seinen Kopf. In seinen Augen spiegelten sich Verzweiflung und Todesangst.«
»Also hatten Sie Mitleid, nahmen uns mit, versteckten uns in einem kleinen Verschlag im Flugzeug und drückten uns eine Flasche Wasser in die Hand«, ergänzte Dr. Mokhtar mit sanfter Stimme. »Mein Vater erzählte mir später, dass es bei Todesstrafe verboten war, Passagiere aus Algier mitzunehmen.«
Finchs Augen wurden hart, und er zuckte die Schultern. »Als der FLN an Bord kam, brach die Hölle los. Sie schrien herum, fuchtelten mit Macheten und drohten, mich zu köpfen. Ich sagte ihnen, dass dann niemand am kommenden Tag Hilfsgüter und Medikamente nach Algier fliegen würde. Ich war der Einzige, der wahnsinnig genug gewesen war, den Job zu übernehmen. Mein Kopilot Freddy Horneborg, ein Holländer, machte sich in die Hose. Als sie das sahen, begannen sie zu lachen, klopften mir auf die Schulter und meinten, wir sollten morgen Schnaps mitbringen, am besten Whisky. Dann stürmten sie aus dem Flieger.«
»Und wir saßen zitternd in unserem Versteck. Mein Vater presste mir seine Hand auf den Mund und betete«, sagte Dr. Mokhtar leise. »Es waren die schlimmsten Augenblicke unseres Lebens.«
Beide schwiegen, versunken in Erinnerungen, die nach all den Jahren so nah und doch so fern waren.
»In Kairo angekommen, fasste mein Vater mühsam wieder Fuß, eröffnete ein Café, aber Nordafrika war nicht mehr seine Heimat«, seufzte Amina Mokhtar und strich behutsam über die Silbermünze. »Den Maria-Theresien-Taler kaufte er vom ersten Geld, das ihm von seinem Verdienst in Ägypten übrig blieb, nach einer langen wirtschaftlichen Durststrecke. Und er wollte, dass Sie ihn bekommen … So schickte er mich eines Tages in die Bar des Continental-Savoy, weil er wusste, Sie würden wohl dort sein, wie immer, früher oder später. Ich ging also zum Friseur und zog mein bestes Kleid an, ich wollte Ihnen ja gefallen. Als ich vor Ihnen stand und so viel erzählen wollte, da versagte meine Stimme, und der Mut verließ mich. Ich konnte nur den Maria-Theresien-Taler auf die Bar legen und zum Dank Ihre Hand küssen.« Sie schluckte. »Zwei Jahre später verkaufte mein Vater das Café und verließ mit mir Ägypten. Wir liefen davon, gingen nach Paris, versuchten zu vergessen.« Sie senkte den Blick und drückte John Finchs Hand. »Wir gingen heim, wie es mein Vater nannte, in ein Land, das uns nicht haben wollte und das uns im Grunde unseres Herzens fremd war.«
Finch nahm einen Schluck und wartete, bis der Kellner eine Reihe kleiner Schalen mit Vorspeisen auf den Tisch gestellt hatte
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