Heißer Schlaf
kamen, um so dichter wurde das Gras, und um so höher wuchsen die Büsche. Bald gab es auch dichteren Baumbestand, und kleine Rinnsale schwollen zu Bächen an, so daß sie immer öfter die Schuhe ausziehen mußten. Schließlich verstauten sie die Schuhe in ihrem Gepäck und gingen barfuß weiter. Ihre Fußsohlen waren ohnehin schon hart wie Leder.
Sechs Wochen nachdem sie das Dorf dem Sand und der Dürre überlassen hatten, sahen sie schneebedeckte Berge vor sich aufragen. »In diesen Bergen entspringt die Hälfte der Quellflüsse der ganzen Welt«, sagte Stipock, und sie marschierten weiter. Eine Woche später konnten sie die Gipfel der Berge nicht mehr sehen, weil sie schon die hohen Ausläufer des Massivs erreicht hatten. Sie folgten dem Lauf eines breiten Stromes nach Norden, und als er sich zu einer Schlucht verengte, mußten sie oft im Fluß waten. Sie stiegen über Felsen, um Wasserfällen auszuweichen, und gelegentlich mußten sie wieder umkehren, weil ein vermeintlich gangbarer Weg an einem Steilhang oder Engpaß endete. Und immer flossen die Wasserläufe nach Süden und Osten, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und ständig ging der Weg bergauf. Sie kamen an den letzten Bäumen vorbei, und die Nahrung wurde so knapp, daß sie rationieren mußten, aber Hunger war nicht so schlimm wie Durst, und es war Sommer, und wenn ihnen auch kalt war, so konnten sie doch wenigstens nicht erfrieren.
Und dann bemerkten sie, daß die Flüsse in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach Nordwesten, flossen, und stellenweise ging es wieder bergab. Und eines Morgens, als sie auf einem mit Gras bewachsenen Hügel, über den der Wind hinwegfuhr, angekommen waren, sahen sie das, worauf sie gehofft hatten: Zwischen zwei niedrigeren Bergen dehnte sich weit vor ihnen wie eine grüne Decke dichter Wald aus, der kein Ende zu nehmen schien.
»Dies ist der größte Wald der Welt«, sagte Stipock. »Das ist auf Jasons Karte zu erkennen. Aber nichts, was uns bevorsteht, könnte so schlimm sein wie das, was wir hinter uns haben.« Sie legten eine Rast ein und genossen den vielversprechenden Anblick, und Cammar spürte die Erleichterung und die Freude, die alle erfaßt hatte und rannte auf dem Hügel hin und her.
»Jason hat uns nie gesagt, daß er von der Welt eine Karte hat«, sagte Wix. »Und du verläßt dich so einfach auf die Erinnerung an diese Karte, als ob du ihr blind vertrautest.«
»Das kann ich beruhigt tun«, sagte Stipock. »Ich habe die Maschine, mit der die geologischen Vermessungen durchgeführt wurden, selbst erfunden. Sie ist recht genau. Die einzigen Ungenauigkeiten liegen in den Einzelheiten – und in der Begrenzung meines eigenen Gedächtnisses.«
Hoom riß Gras aus und warf es in den Wind. »Weißt du, Stipock, immer wieder hast du uns erzählt, daß Jason nicht Gott ist. Und jedes Mal, wenn es um eines der Wunder geht, die Jason vollbracht hat, sagst du: ›Natürlich kann er das‹. Und ich glaube, ich fange an, das zu verstehen. Was Jason tut, ist für dich eine alltägliche Sache. Für dich müßte Gott noch viel ungewöhnlicher sein. Aber für uns sind Jasons Fähigkeiten unerreichbar. Und deshalb ist er für uns alles andere als ein gewöhnlicher Mensch. Für uns ist er Gott. Und warum eigentlich nicht?«
Stipock lehnte sich zurück. »Ich nehme an, daß ein Mann, der die Welt auf irgendeine Weise manipulieren will und intelligent und mächtig genug ist, das auch zu tun, ruhig Gott spielen soll. Aber das ändert doch nichts an …«
Er wurde von einem durchdringenden Schrei unterbrochen, und alle sprangen auf. »Cammar!« schrie Dilna, und sie erkannten schnell, daß er nicht mehr oben auf dem Hügel war. Sie rannten in verschiedene Richtungen, und Stipock rief: »Hier! Kommt hierher!« Er stand am nordwestlichen Abhang, den sie noch nicht gesehen hatten, und als sie an den Rand traten, erkannten sie, daß der sanft ansteigende Hügel an dieser Seite steil und zerklüftet abfiel. Ausgerissenes Gras markierte die Stelle, an der Cammar abgestürzt war.
Dilna war wie von Sinnen. »Cammar!« schrie sie immer wieder. Und dann kam seine Antwort überraschenderweise ganz aus der Nähe. »Mama, ich hab’ mir wehgetan!«
»Beweg dich nicht, Cammar!« rief Hoom, und Stipock brüllte: »Wo bist du?«
»Hier«, antwortete Cammar.
Hoom rannte ein kleines Stück am Abhang entlang. »Ich kann ihn von hier sehen!« rief er. »Er liegt direkt unter dem Rand auf einem Felsvorsprung!« Dann winkte Hoom
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