Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
kümmern?«
»Ja. Ja, das würde ich wirklich vorziehen.«
Mamma Louisa zuckte mit den Schultern. »Ich werde gut bezahlt fürs Saubermachen und Kochen für die Gäste hier, Miss Jenny. Aber wenn es Ihnen lieber ist, mach ich von jetzt an einen großen Bogen um Ihr Zimmer … und Ihre Geheimnisse.«
»Ich habe keine Geheimnisse.«
Die Haushälterin nickte. »Ja, ja. Ich werde auch Eva Lynn Bescheid sagen, dass sie Ihr Zimmer nicht betreten soll.« Damit wandte sie sich von dem halb gemachten Bett ab und schickte sich zum Gehen an, doch als sie die Tür erreichte, blieb sie noch einmal stehen.
»Es gibt … Dinge da draußen, ma chère, die Sie nicht glauben würden. Dinge, die in Ruhe gelassen werden sollten.«
Zuerst war Jenny wie erstarrt vor Schock über die Bemerkung, aber als Mamma Louisa den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog, schüttelte Jenny ihre Erstarrung ab und lief ihr hinterher.
Sie riss die Tür auf und stürmte auf den langen Gang hinaus. »Warten Sie! Was wissen Sie über diese ›Dinge‹?«
Doch Mamma Louisa war schon nicht mehr da.
3. Kapitel
J enny kniete auf dem Boden und konnte nur mit Mühe einen erfreuten Aufschrei unterdrücken. Vor ihr war klar und deutlich ein Fußabdruck in der feuchten Erde zu erkennen. Er ist zu groß und zu länglich, um von einem Tier zu stammen, überlegte sie. Das Wesen war demnach kein Wolf gewesen, als es diesen Abdruck hinterlassen hatte, aber auch kein Mensch. Sie fragte sich, ob er vielleicht auch von einem Bär stammen könnte, doch dann wäre er runder und nicht so lang. Oder von einem Gorilla – doch es gab keine Gorillas hier in den Bayous. Jedenfalls wusste sie von keinen. Sie würde im Internet nachsehen, um sicher sein zu können, und bis dahin keine voreiligen Schlüsse ziehen – auch wenn es angesichts einer solchen Entdeckung gar nicht leicht war, ihre wissenschaftliche Skepsis aufrechtzuerhalten.
Denn dieser Fußabdruck könnte eine ungeheuer wichtige Entdeckung sein.
Jenny legte den Rucksack ab, öffnete ihn und nahm verschiedene Gegenstände heraus. Zunächst vermischte sie Gipspulver mit Wasser aus einer Flasche, bis es die richtige Konsistenz hatte, und dann entfernte sie vorsichtig Grashalme, Laub und Steinchen aus dem Fußabdruck. Schließlich goss sie ihn mit Gips aus und trat zurück, um abzuwarten, dass sich der Gips erhärtete.
Während des Wartens blickte sie sich um. Sie stand in einem bewaldeten Gebiet in einiger Entfernung von der Straße. Nachdem sie anfangs in die Richtung gegangen war, aus der das Wesen ihrer Erinnerung nach erschienen war, hatte sie einen Halbkreis um die Stelle geschlagen, wo sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Dann hatte sie nach und nach den Suchbereich erweitert und die Bäume und den Boden nach Anzeichen irgendwelcher Tiere abgesucht. Und sie hatte auch einige gefunden. Die Feder eines Raben, die Spuren eines Wildschweins, vermutlich desselben, dem sie in der Nacht zuvor begegnet war, ein paar borstige Haare, die in einer Baumrinde steckten, an der sich offenbar das Schwein gekratzt hatte. Und in der Nähe der Stelle, wo der Sumpf begann, hatte sie eine lang gezogene, matschige Spur entdeckt, die wahrscheinlich von einem Alligator stammte.
Und schließlich den Fußabdruck.
Dort kniete sie sich nun hin, um den Gips zu überprüfen. Er war noch längst nicht hart genug.
Das Motorengeräusch eines Autos ließ sie aufblicken, und verärgert runzelte sie die Stirn, als sie nach der Quelle des Geräusches suchte. Es kam nicht von der Straße, die hinter ihr lag, sondern von irgendwo vor ihr. Gab es noch eine andere Straße, die an diesem Sumpfgebiet und Wald vorbeiführte?
Während sie noch angestrengt lauschte, verstummte das Motorengeräusch, und eine Tür schlug zu.
Irgendjemand war da draußen. Schnell sammelte Jenny ein paar großblättrige Pflanzen und verbarg ihren Gipsabdruck darunter; dann hängte sie sich den Rucksack über die Schulter und ging tiefer in den Wald hinein. Fünfzig Meter, sechzig Meter, und gerade als sie schon dachte, dass sie nichts finden würde, sah sie es: ein lang gestrecktes Blockhaus, das nahezu perfekt getarnt war durch die umstehenden Bäume.
Stirnrunzelnd ging sie weiter und spähte zwischen den Bäumen hindurch, bis sie einen guten Blick auf das kleine Haus erlangte. Es war hübsch mit seinem steinernen Schornstein und den grün gestrichenen Fensterläden mit halbmondförmigen Ausschnitten darin. Auch die Tür hatte einen grünen Anstrich, ein
Weitere Kostenlose Bücher