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Heißes Geld

Heißes Geld

Titel: Heißes Geld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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der Verzweiflung erlebt, und war doch nicht untergegangen in der Stadt, in der er Jessica zu Grabe getragen hatte, einer der angeschlagenen Überlebenden, wie sie zu Hunderttausenden täglich von den Bürotürmen geschluckt und zur rush-hour wieder ausgespuckt werden.
    »Warum fährst du nach Europa?« rief ihn Lydia aus seinen Gedanken.
    »Ich suche einen Mann«, antwortete Henry. »Er hat üble und ungewöhnliche Verbrechen verübt.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Und irgendwie ist er ein Mensch ohne Konturen.«
    »Moment mal«, unterbrach er sich selbst und holte das vergilbte Fahndungsplakat aus einer Aktentasche; er reichte es Lydia.
    Sie betrachtete das Foto, studierte das Gesicht.
    »Die Aufnahme ist technisch schlecht und 17 Jahre alt. Der Bursche sieht sicher heute ganz anders aus.«
    Lydia nickte.
    »Du verstehst dich doch auf Gesichter«, sagte Henry und hielt beherzt eine Eingebung fest, die er für absurd hielt. »Ich weiß nicht, ob so etwas überhaupt möglich ist«, begann er, »aber könnte man zum Beispiel das Foto als Vorlage nehmen und 17 Jahre hinzuzeichnen?«
    »Man könnte es«, antwortete Lydia. »Aber es wäre sehr hypothetisch.«
    »Gut«, versetzte er. »Der Mann kann dick geworden oder hager geblieben sein. Vielleicht sind ihm inzwischen die Haare ausgefallen oder die Zähne. Womöglich ist er vorzeitig gealtert – oder er hat sich gut gehalten. Viel mehr Möglichkeiten gibt es doch wohl nicht.«
    »Was weißt du von ihm?« fragte Lydia. »Hast du Anhaltspunkte, wie er in der Zwischenzeit gelebt hat? Ob er gerne gut isst und nachts ruhig schläft?«
    »Wenn er das tut, dann hätte er es die längste Zeit getan«, versetzte Henry, und Lydia hörte Hass und Ohnmacht aus seinen Worten.
    Sie betrachtete erneut das Foto, als lernte sie es auswendig, griff nach ihrem Zeichenblock und begann zu skizzieren. Sie zerknüllte die Blätter, warf sie weg. »Ich muß darüber schlafen«, erwiderte Lydia, »und dann bei Tageslicht …«
    »Leider ist es sehr eilig.«
    »Morgen«, erwiderte sie und lächelte, »vorausgesetzt, ich bekomme jetzt noch einen Night-Cup.«
    Zur Stunde, da Lydia und Henry einen Gute-Nacht-Schluck nahmen, bevor sie ihre Schlafzimmer aufsuchten, war die Frau ohne Vornamen, hinter der der Anwalt in Deutschland her war, bereits im Schnellzug nach München, zugestiegen in Rosenheim, um den 24. und letzten Brief ihrer Zeitrechnung – jeweils von Dingsbach bis Dingsbach – in Empfang zu nehmen.
    Hannelore war an diesem Tag beizeiten aufgestanden, als wollte sie die Angst vor dem Datum durch Geschäftigkeit niederhalten. Sonst war immer der Geburtstag auf sie zugekommen wie eine große, dreckige Ratte, vor der sie in die Ecke flüchtete – und dann doch – ihre Gedanken und Gefühle wie Rattenbisse spürte. An diesem 19. Juli hatte jedesmal ein neues Jahr des Alleinseins und der Ausweglosigkeit begonnen, und die Bedrängte hatte gelegentlich mit dem Vorsatz gespielt, sich und den Schädling zu vergiften, und das hieß, eine Handvoll Schlaftabletten zu nehmen und hinüberzudämmern in eine noch größere, aber nicht mehr fühlbare Leere. Vor diesem letzten Entschluß hatte sie letztlich nur die Gewissheit bewahrt, daß sie in einer Woche Horst sehen würde, um dann mit ihm einen ganzen Monat lang wie Mann und Frau in einem abgelegenen Nest zusammenzuleben.
    Heute wagte sich die Ratte nicht heran, obwohl Hannelores Wiegenfest auf einen Freitag gefallen war, und es auch noch ihr 50. Geburtstag war, eine Zäsur selbst für Menschen, die sonst gleichgültig vor sich hinaltern. Erstmals stand die Jubilarin über der Situation, denn diesmal gäbe es nach Dingsbach keinen schnellen Abschied und keine längere Trennung mehr: Werner Nareike würde um seine erste Frau anhalten, um seine eigene Witwe. Zwar war die Braut schon im vorgerückten Alter, aber sie brachte außer zwei großen Mietshäusern in Berlin-Charlottenburg als Mitgift auch noch ihre Mitwisserschaft in die Ehe ein.
    Hannelore wohnte als Mieterin im ersten Stock des auf einer Anhöhe liegenden Hauses ›Alpenblick‹ in Hartmannsberg, einem kleinen Dorf im Chiemgau, in dem es nur ein Wirtshaus, keinen Arzt und keinen Polizisten gab. Sie wollte das Haus unbemerkt verlassen, aber Frau Muckelbauer, die geschwätzige Besitzerin, und deren Neugier waren ebenfalls Frühaufsteher: »Fahr'ns in d'Stadt, Frau Linsenbusch«, fragte sie.
    »Ja, ich fahre in die Stadt«, antwortete sie. »Guten Tag.«
    Hannelore stieg in

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