Heißes Geld
die Tage zu zählen, wie die noch zu öffnenden Fenster eines Adventskalenders. Seit ihrem Besuch hatte sie vom Amtsgericht Rosenheim nichts mehr gehört, laut Horst ein Beweis, daß alles so verliefe, wie sie es geplant hatten. Dieser Dr. Kleinwacht, der die Entscheidung fällen würde, war ohnedies ein freundlicher Herr voller Hilfsbereitschaft. Ihre Gedanken sprangen von ihm zu Horsts Brief. Sie ging den Wechsel der Hotels und Postämter durch: Bahnhofsplatz, Eisenstraße, Dachauer Straße, Theresienstraße, Agnesstraße, Goetheplatz, Isartorplatz – auf einmal wußte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte: Nicht das Bahnhofspostamt, sondern das Gebäude am Goetheplatz war heute an der Reihe. Am liebsten hätte Hannelore den Kopf unter der Trockenhaube hervorgezogen und wäre einfach davongerannt. »Noch etwas Geduld, gnädige Frau«, sagte der Friseur. »Wir haben's bald«, doch das stimmte nicht, denn die Tortur würde einschließlich kosmetischer Behandlung sich noch mindestens eineinhalb Stunden hinziehen.
Hannelore sah in den Spiegel und stellte fest, daß sie kein Geburtstagsgesicht trug. Links und rechts ihrer Nasenwurzel standen kritische Falten. Es war unangenehm warm im Salon, und dieser schwarzlockige Figaro, der immer wieder versuchte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, machte sie nervös, wie das Gewäsch, das aus den umliegenden Kabinen kam.
Endlich war die Prozedur überstanden. Der Figaro präsentierte den Spiegel von allen Seiten, aber Hannelore gestand sich, daß keine vorteilhafter aussah als die andere. Sie erschrak über das geborgte Blond, und sie fragte sich ein wenig hämisch, ob sie ihren Rivalinnen auch noch andere Spezialitäten absehen müßte.
Sie ging zu Fuß zum Goethe-Postamt. Hannelore wollte den Kopf mit den Händen bedecken. Sie lief Spießruten, bis sie merkte, daß sich nicht ein Passant um das neue Blond kümmerte, und sie höchstens durch ihre Hast auffiel.
Diesmal wurde der Postbeamte fündig, und Hannelore rügte sich hinterher, weil sie so schnell nach dem Brief gegriffen hatte. Sie widerstand der Versuchung, den Umschlag gleich im Postamt aufzureißen, suchte ein kleines Tagescafé auf und nahm die herzlichsten Glückwünsche entgegen – in Maschinenschrift – las weiter und merkte, daß die nächsten Zeilen ihr Herz krampfen ließen: Horst wollte Dingsbach verschieben, um die Rechtskraft des Gerichtsbeschlusses abzuwarten. Der Zusatz: »– damit wir den Rest unseres Lebens gemeinsam Seite an Seite verbringen können«, konnte die Pille nicht verzuckern. Ohnedies wirkte er falsch, übertrieben und aufgesetzt wie eine Pappnase.
Hannelore wollte sich nicht zum Narren machen lassen. Ihr knochiges Gesicht wirkte alt und grau. Dingsbach war für sie unantastbar, nicht nur aus Eigensinn. An diese vier Wochen klammerte sie sich. Elf Monate gespeicherte Sehnsucht waren genug. Es schien ihr, als würde einem Marathonläufer auf den letzten Metern das Ziel noch einmal hinausgerückt, um fünf, um acht, oder um hundert Meilen.
Horst hatte schon ein paar Mal versucht, aus durchaus verständlichen Gründen, den Urlaub zu beschneiden oder zu verschieben, seine Frau hatte es nie zugelassen. Wenn es um ihren abgelegenen Ferienort ging, war sie verbissen, töricht und uneinsichtig, eine Mixtur, mit der nicht zu spaßen war.
Außerdem war Horst feige. Er hatte seine Absage so präsentiert, daß sie nichts dagegen unternehmen konnte, da ihr Telefontag in der nächsten Woche mit dem geplanten Urlaubsantritt zusammenfiele. Er wollte sie hereinlegen, und das würde sie nicht zulassen. Auf keinen Fall. Wenn Horst Dingsbach verschieben wollte, müßte er über ihre Leiche gehen. Hannelore wußte, daß es ein dummer Gemeinplatz war, aber erstmals setzte er sich in ihrem Unterbewusstsein fest, doch sie kam nicht dazu, darüber nachzudenken.
Plötzlich fiel ihr ein, wie sie Horst unmissverständlich warnen konnte.
Das Sommerfest war nicht verregnet, und nicht nur darin unterschied es sich von den Veranstaltungen der vergangenen Jahre. Vor der Tür der ›Waldschänke‹ stand ein einziger Wagen, ein ›Maserati‹, alle außer dem Junior – vom Firmengründer bis zum letzten Stift – waren mit Bussen zur Vergnügungsstätte gebracht worden. Angefeuert von drei Tanzkapellen, begannen die ›Müllerianer‹ Maloche und Moleste zielstrebig zu ertränken.
Natürlich hielt Hermann Müller eine Ansprache, aber er machte es kurz und teilte mit, daß das Urlaubsgeld verdoppelt, das
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