Heiter. Weiter.
Einer hat die Karte ausgebreitet. Ihre Zeichen sagen eindeutig: Du bist vom rechten Wege abgekommen! Ich winke ab, sie verstehen. Lachen. Gehen weiter. Die meisten Wanderer achten mehr auf die mit einigem Abstand Vorauseilenden als auf die Markierungen. Ich auch. Und man läuft gut damit. Doch sollte man stets überprüfen, ob die, von denen man sich bislang leiten ließ, auch das gleiche Ziel verfolgen wie man selbst - nicht nur auf dem Jakobsweg.
In Espinosa del Camino ist die schon vor Jahren in die Jahre gekommene Bar renoviert und erweitert worden. Die Wohnstube wurde zur Gaststube. Man verdient am Camino, investiert und hofft, dass Pilger und Pilgerboom anhalten. Manches Lädchen oder Café in den kleinen Orten am Weg hätte sich ohne die Pilger längst nicht mehr rentiert. Die Einwohner freuen sich, dadurch etwas Infrastruktur erhalten zu können. Und vielleicht auch einen Arbeitsplatz.
Schön in Villafranca Montes de Oca ist die Bar mit Lebensmittelladen „El Puerto“ am Ortsausgang in Richtung Burgos. Hier ist es sauber und freundlich, es gibt eine gute Auswahl bei eingeschaltetem Licht. Im Schankraum stehen frische Blumen, dort darf man das Gekaufte verzehren. Die Wirtin singt und schmiert sich ein Geleebrot. Ich bestelle Wein, einen „Clara“. „Ah si, claro“, meint sie.
Für andere Pilger ist das „El Puerto“ ebenso ein wichtiger Punkt im Ort: Hier halten die Busse nach Burgos. So auch für einen Senior aus Süddeutschland. Er hat zu spät erkannt, dass nach der Meniskusoperation seine irrsinnigen tagtäglichen 40-Kilometer-Plus-Etappen in seinem Alter Gift für die Gelenke waren. Jetzt ist für ihn die Wanderung zu Ende. Der Pilger sollte nicht davonrennen, sondern auf sich zugehen. Doch er darf dabei sich nicht im Wanderweg stehen.
Unangehmene Abschnitte will ich nicht einfach umgehen
Nach Villafranca Montes de Oca steigt der Pilgerpfad an und verwandelt sich im Wald zur flachen Piste, die auch farblich an eine Aschenbahn erinnert. Auf ihr kommt der Wanderer gut voran. Bei Regen sieht das hier anders aus.
In San Juan de Ortega lohnt die Besichtigung der Kirche. Das Sarkophag zeigt Jesus umringt von Engel, Löwe, Stier, und Adler - den Symbolen der Evangelisten. Die zwölf Apostel sind erkennbar an ihren Attributen. Meist sind es Instrumente der Marter oder Hinrichtung wie Messer, Lanze, und Säge. Jakobus fällt angenehm auf mit Hut und Wanderstab, für manchen Jakobspilger jedoch inzwischen auch Symbole von Pein und Qual.
Pause. Ich esse Brot, trinke Wein. Langsam. Der Mund ist trocken. Das Brot ist trocken, ohne Belag. Ich habe gelernt, Langsamkeit zu genießen, den Genuss langsam wirken zu lassen. Sorgsam kaue ich das Brot, wieder und wieder. Mit dem Wein befeuchte ich meine Lippen, ein klein wenig darf auch in den Mund. Jetzt entfaltet sich der ganze Geschmack am Gaumen. Ein Stückchen Brot und ein Schlückchen Wein bieten solch ein mächtiges Erlebnis! In den ersten Wochen meiner Wanderung hatte ich Käse, Schinken und Brot mit einem ordentlichen Schluck hinuntergespült - mir hatte es geschmeckt, gut geschmeckt. Ich war hungrig und kulinarisch neugierig. Doch welch ein Wohlgefühl verschaffen einfache Lebensmittel in kleinen Mengen. Es bedarf nicht des Weines, es funktioniert auch mit Wasser. Doch mit Wein ist es schöner.
Mit Wein ist es schöner. Das wusste 2004 auch der Knubbelnasen-Wirt in Cardeñuela Ríopico - und goss sich einen nach dem anderen in den Schlund. Seine winzige Frau schuftete währenddessen ohne Pause. Ein italienischer Pilger stufte ihr fetttriefendes Essen als „dangerous“ ein. Sogar der Toast wurde in Öl gebraten. Sie betreute auch die Herberge, in der ich damals übernachtete. Alles war sehr liebenswert und ich wollte hier erneut die Nacht verbringen. Doch jetzt sind Gasthaus und Pilgerherberge verschlossen. Was ist da geschehen? Ich hatte mich sehr auf das Wiedersehen gefreut. Schade! Adiós, kleine Frau, adiós Knubbelnase.
Ich muss bis Burgos weiterwandern. Oder Bus fahren. In den gedruckten Führern wird die Strecke hinein in die Stadt in schrecklichen Farben gemalt. Führergläubige halten stets Kleingeld für Fahrscheine parat. Doch der unattraktive Wegabschnitt in die Stadt ist ein Teil des Jakobsweges. Ich kann auch auf meinem Weg durchs Leben die unangenehmen Abschnitte nicht einfach umgehen: Ich muss sie angehen. Habe ich sie bewältigt, blicke ich mit gewachsenem Selbstvertrauen zurück und lache über meine einstigen Befürchtungen. Wir
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