Held zum Verlieben
aufgewacht, mit dem Rücken gegen einen umgefallenen Baum gelehnt, der halb in einen Bach hineinragte. Die Eichhörnchen keckerten und die Vögel zwitscherten, und er hatte die übelsten Kopfschmerzen gehabt, die man sich nur vorstellen konnte. Mühsam war er damals auf die Knie gekommen, hatte sich schmerzhaft übergeben und war dann auf allen vieren zu dem kleinen Bach gekrochen, wo er den Kopf ins Wasser steckte, in der Hoffnung, so die Schmerzen zu lindern. Es hatte nicht funktioniert. Und als er den Kopf wieder aus dem Wasser gehoben hatte, um nach Luft zu schnappen, hatte er etwas in dem Bach gesehen, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ein Schuh. Der Schuh einer Frau.
Für Bruchteile einiger Sekunden waren ihm daraufhin Bilder eines Mädchens erschienen, das um sein Leben zu laufen schien, und das dann gellend schrie. Und da hatte ihn eine weitere Welle der Übelkeit erfasst. Als die dann vorbei gewesen war, war auch sein Erinnerungsvermögen wieder verschwunden. Er war nach Hause gegangen, hatte halb erwartet, dass der Vater irgendeines Mädchens mit dem Gewehr bei ihm zu Hause auftauchen würde, doch die einzige Person, die auf der Veranda gestanden hatte, war seine Mutter gewesen, die bei seinem Anblick in Tränen ausbrach. Für den Rest des Monats hatte er dann Hausarrest gehabt.
Am darauf folgenden Montag war er zur Schule gegangen, voller Furcht vor dem, was unweigerlich würde kommen müssen. Als jedoch einige Wochen vergangen waren, ohne dass irgendetwas passiert war, hatte er sich selbst überzeugt, dass überhaupt nichts vorgefallen war.
Und jetzt, zwanzig Jahre später, litt er unter derselben Furcht. Nur war es so, dass es ihm diesmal nicht helfen würde, so zu tun, als wäre nichts passiert. Denn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, spürte er, wie ihn die Dunkelheit wieder umfing, die Schmerzen in seiner Hüfte an ihm nagten und wie der Staub und Dreck ihn zu ersticken drohten. Er war überzeugt, dass irgendwo da draußen die Gefahr immer noch lauerte, darauf lauerte, dass er Schwäche zeigte, darauf wartete, dass er unaufmerksam war. Und er wusste, wenn sie ihn diesmal entführten, würde er es nicht überleben.
Daher geriet er auch fast in Panik, als seine Frau ihm mitteilte, dass ein Deputy ihn sprechen wollte. Einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass die Täter gefasst würden, andererseits hatte er eine Heidenangst davor, dass die Ermittlungen und Fragen der Polizei ein entsetzliches Geschehen aus der Vergangenheit ans Tageslicht befördern würden.
Victor riss sich zusammen und empfing Jack Hanna so gelassen, wie es ihm möglich war. „Und haben Sie Neuigkeiten für mich?“
„Ich fürchte nein, Sir. Und genau deswegen bin ich auch hier. Bisher haben wir außer dem Brandmal auf Ihrer Hüfte rein gar nichts, was uns als Hinweis dienen könnte.“
Victors Gesicht verfärbte sich zu einem hässlichen Dunkelrot. „Ich würde es vorziehen, wenn Sie … diese Wunde nicht als Brandmal bezeichnen würden.“
Jack lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog einen Notizblock und Kugelschreiber hervor. „Entschuldigen Sie. Dann bezeichnen wir es eben als Wunde.“
Victor nickte zustimmend.
„Die Wunde hat die Form eines ‚V‘, richtig?“
Wieder wurde Victor puterrot. Jack sprach schnell weiter, um dem Mann keine Gelegenheit zu geben, sich mit ihm zu streiten.
„Hören Sie, Mr Shuler. Ich weiß, dass das hier schmerzhaft für Sie ist, aber es gibt nur eine Möglichkeit, die wahren Umstände der Tat herauszufinden, und die ist, die Wahrheit zu sagen. Dem medizinischen Bericht zufolge hat jemand den Buchstaben ‚V‘ auf Ihrer Hüfte eingebrannt. Das ‚V‘ steht, so nehme ich an, für ‚Victor‘. So, wie es aussieht, wurde es nach Ansicht des Arztes mit einem elektrischen Brandeisen gemacht. Erinnern Sie sich daran, irgendetwas gehört zu haben?“
„Nein.“
Jack versuchte es noch einmal. „Überlegen Sie gut. Ihnen waren die ganze Zeit über die Augen verbunden, nicht wahr?“
Shuler nickte nur.
„Na gut. Dann erinnern Sie sich möglicherweise an einen Duft. Oder haben Sie vielleicht etwas gehört?“
„Nein“, wehrte Victor kurz angebunden ab. „Meinen Sie nicht, dass ich es Ihnen gesagt hätte, wenn ich mich an irgendetwas erinnern könnte?“ Er blickte kurz zu seiner Frau. „Betty, ich hätte gern ein Glas Limonade. Wärst du so lieb …?“
„Natürlich“, sagte sie und verließ schnell den Raum.
Jack musterte den Mann
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