Helden des Olymp: Der verschwundene Halbgott (German Edition)
immer verzweifelter aus, je länger Thalia ihre Mom beschrieb – und zum ersten Mal war Leo nicht eifersüchtig auf seinen Freund. Leo hatte seine Mom verloren. Er war durch harte Zeiten gegangen. Aber er konnte sich immerhin an sie erinnern. Er ertappte sich dabei, wie er eine Morsenachricht auf seine Knie tippte. Ich liebe dich. Jason tat ihm leid, weil er keine solchen Erinnerungen hatte, nichts, worauf er zurückgreifen konnte.
»Also …« Jason schien seine Frage nicht beenden zu können.
»Jason, du hast Freunde«, sagte Leo zu ihm. »Und jetzt hast du eine Schwester. Du bist nicht allein.«
Thalia streckte die Hand aus und Jason nahm sie.
»Als ich ungefähr sieben war«, sagte sie dann, »fing Zeus wieder an, Mom zu besuchen. Ich glaube, er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr Leben ruiniert hatte, und er kam mir – irgendwie anders vor. Etwas älter und strenger und väterlicher mir gegenüber. Eine Zeit lang schien es Mom besser zu gehen. Sie fand es wunderbar, wenn Zeus in der Nähe war, ihr Geschenke brachte, den Himmel grollen ließ. Sie wollte immer mehr Aufmerksamkeit. Das war das Jahr, in dem du geboren wurdest. Mom … na ja, ich bin nie gut mit ihr ausgekommen, aber du gabst mir einen Grund, noch zu bleiben. Du warst so niedlich. Und ich habe Mom nicht zugetraut, sich gut um dich zu kümmern. Natürlich stellte Zeus seine Besuche dann irgendwann wieder ein. Vermutlich konnte er Moms Forderungen nicht mehr ertragen, immer quengelte sie herum, weil sie den Olymp besuchen und er sie unsterblich oder für immer schön machen sollte. Als dann endgültig Schluss war, wurde Mom immer labiler. Das war zu der Zeit, als die Monster anfingen, mich anzugreifen. Mom machte Hera dafür verantwortlich. Sie behauptete, die Göttin habe es auch auf dich abgesehen – Hera hätte schon ein Kind nur mit Mühe hinnehmen können, aber zwei Halbgottkinder aus einer Familie seien eine zu große Beleidigung. Mom behauptete sogar, sie habe dich gar nicht Jason nennen wollen, aber Zeus habe darauf bestanden, um Hera zu besänftigen, weil der Göttin dieser Name gefiel. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.«
Leo spielte an seinen Kupferdrähten herum. Er kam sich vor wie ein Eindringling. Er sollte das eigentlich alles gar nicht hören, aber es gab ihm auch das Gefühl, Jason endlich kennenzulernen und auf diese Weise die vier Monate in der Wüstenschule wettzumachen, in denen Leo sich nur eingebildet hatte, mit Jason befreundet zu sein.
»Wie seid ihr denn getrennt worden?«, fragte er.
Thalia drückte die Hand ihres Bruders. »Wenn ich gewusst hätte, dass du noch lebst – bei den Göttern, alles wäre anders gekommen. Aber als du zwei warst, hat Mom uns für einen Familienausflug in den Wagen gepackt. Wir sind nach Norden gefahren, in das Weinbaugebiet, zu einem Park, den sie uns zeigen wollte. Ich weiß noch, dass ich das seltsam fand, weil Mom sonst nie etwas mit uns unternahm, und sie wirkte supernervös. Ich hielt dich an der Hand und wir gingen auf ein großes Haus mitten im Park zu und …« Sie holte zitternd Atem. »Mom sagte, ich sollte zum Auto zurücklaufen und den Picknickkorb holen. Ich wollte dich nicht mit ihr allein lassen, aber es war ja nur für ein paar Minuten. Als ich zurückkam … da kniete Mom auf der Steintreppe, hatte die Arme um sich geschlungen und weinte. Sie sagte – sie sagte, du seist verschwunden. Sie sagte, Hera habe dich geholt und du seist so gut wie tot. Ich wusste nicht, was sie getan hatte. Ich hatte Angst, sie habe vollständig den Verstand verloren. Ich bin im ganzen Park herumgerannt, um dich zu suchen, aber du warst einfach verschwunden. Sie musste mich schreiend aus dem Park schleifen. Die nächsten Tage war ich vollkommen hysterisch. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber ich habe die Polizei verständigt und sie haben Mom sehr lange ausgefragt. Danach haben wir uns gestritten. Sie sagte, ich hätte sie verraten, ich müsste zu ihr halten – als ob sie die Einzige wäre, die eine Rolle spielte. Am Ende konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich lief von zu Hause weg und bin nie zurückgegangen, nicht einmal, als Mom vor ein paar Jahren gestorben ist. Ich dachte, du wärst für immer verschwunden. Ich habe niemandem von dir erzählt – nicht einmal Annabeth oder Luke, meinen beiden besten Freunden. Es tat einfach zu weh.«
»Chiron hat es gewusst.« Jasons Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Als ich ins Camp kam, hat er mich nur
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