Helden des Olymp: Der verschwundene Halbgott (German Edition)
Jetzt hätte er einen Feuer speienden Bronzedrachen gut brauchen können. Aber Leo wusste, dass Festus nicht zurückkehren würde – jedenfalls nicht in seiner alten Gestalt.
Er streichelte das Bild in seiner Tasche, die Buntstiftzeichnung, die er mit fünf Jahren am Picknicktisch unter dem Pecanbaum angefertigt hatte. Er erinnerte sich daran, dass Tía Callida dabei gesungen hatte, und wie unglücklich er gewesen war, als der Wind ihm das Bild entrissen hatte. Die Zeit ist noch nicht gekommen, kleiner Held, hatte Tiá Callida zu ihm gesagt. Eines Tages wirst du deine Aufgabe erhalten. Du wirst deine Bestimmung finden und deine Reise wird endlich einen Sinn ergeben . Jetzt hatte ihm Aeolus das Bild zurückgegeben. Leo wusste, das bedeutete, dass seine Bestimmung näher rückte; aber die Reise dahin war ebenso frustrierend wie dieser blöde Berg. Immer, wenn er glaubte, sie hätten den Gipfel erreicht, war es nur ein Felssims, hinter dem sich ein noch höheres befand. Alles der Reihe nach, sagte sich Leo. Erst mal überleben. Die schicksalhafte Buntstiftzeichnung durchschaue ich später.
Endlich ging Jason hinter einer Felswand in die Hocke und winkte die anderen zu sich. Leo kroch neben ihn. Piper musste Trainer Hedge nach unten ziehen.
»Ich will meinen neuen Anzug nicht schmutzig machen!«, schimpfte der.
»Pst!«, sagte Piper.
Widerstrebend ging der Satyr in die Knie.
Auf der anderen Seite der Felsmauer, im Schatten des höchsten Gipfels, war eine mit Bäumen bewachsene Senke von der Größe eines Footballplatzes, und dort hatte der Riese Enceladus sein Lager aufgeschlagen.
Ein lila Lagerfeuer aus gefällten Bäumen loderte. Am Rand der Lichtung standen Holzklötze und Baugeräte herum – ein Bagger, ein riesiger Kran mit rotierenden Klingen wie ein elektrischer Rasierer – sicher eine Holzernte-Maschine, glaubte Leo – und eine lange Metallsäule mit einer Axtschneide, wie eine seitlich gekehrte Guillotine – eine hydraulische Axt.
Warum ein Riese Baugeräte brauchte, war Leo nicht so ganz klar. Er glaubte nicht, dass dieses Wesen, das da vor ihm stand, auch nur auf den Fahrersitz passen würde. Der Riese Enceladus war so groß und so entsetzlich, dass Leo ihn gar nicht ansehen wollte.
Aber er zwang sich dazu.
Zum Ersten war er zehn Meter hoch – und reichte damit problemlos an die Baumwipfel heran. Leo war sicher, dass der Riese sie hinter der Felsmauer sehen könnte, aber er schien sich auf dieses seltsame lila Lagerfeuer zu konzentrieren; er umkreiste es und sang leise Beschwörungsformeln. Von der Taille aufwärts sah der Riese aus wie ein Mensch, seine muskulöse Brust war mit einer Bronzerüstung bekleidet, die mit Flammenmustern dekoriert war. Seine Arme waren muskelbepackt. Sein Bizeps allein war größer als der ganze Leo. Seine Haut war bronzefarben, aber voller Ruß. Das Gesicht war grob geformt, wie eine halb vollendete Tonfigur, aber seine Augen leuchteten weiß und die Haare fielen in zottigen Dreadlocks auf seine Schultern und waren mit Knochen durchflochten.
Von der Hüfte abwärts sah er noch entsetzlicher aus. Seine Beine waren grün geschuppt und hatten Klauen anstelle von Füßen – wie die Vorderbeine eines Drachen. In der Hand hielt Enceladus einen Speer von der Größe eines Fahnenmasts. Immer wieder streckte er die Spitze ins Feuer, so dass das Metall rot aufglühte.
»Na gut«, flüsterte Trainer Hedge. »Hier ist mein Plan …«
Leo versetzte ihm einen Rippenstoß. »Sie werden ihn nicht allein angreifen!«
»Ach, komm schon!«
Piper unterdrückte ein Schluchzen. »Seht doch!«
Auf der anderen Seite des Feuers war gerade so eben ein an einen Pfahl gefesselter Mann zu erkennen. Sein Kopf hing herunter, als wäre er bewusstlos, deshalb konnte Leo sein Gesicht nicht erkennen, aber Piper schien keinen Zweifel zu haben.
»Dad«, sagte sie.
Leo schluckte. Er wünschte, dies wäre ein Tristan-McLean-Film. Dann würde Pipers Dad die Bewusstlosigkeit nur vortäuschen. Er würde seine Fesseln abwerfen und den Riesen mit einem geschickt versteckten Anti-Riesen-Gas bezwingen. Heroische Musik würde erklingen und Tristan McLean würde einen umwerfenden Abgang hinlegen und in Zeitlupe davonrennen, während hinter ihm der Berg explodierte.
Aber das hier war kein Film. Tristan McLean war halb tot und würde bald gefressen werden. Und die Einzigen, die das verhindern konnten, waren drei modisch gekleidete junge Halbgötter und eine größenwahnsinnige Ziege.
»Wir sind
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