Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heldenzorn: Roman (German Edition)

Heldenzorn: Roman (German Edition)

Titel: Heldenzorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
Vom Netzwerk:
meinte, die Geister hätten ihn nicht ohne Grund zu uns geschickt. Und er war ja nicht gefährlich. Seine Beine waren zerquetscht, und er hatte kein Gefühl mehr darin. Kokipe dachte, der Harte Mensch würde das nur spielen, und deshalb hat er ihn mit einem Messer ins Bein gestochen.«
    »Dieser Kokipe scheint mir schlauer zu sein als deine Lehrmeisterin«, merkte Dokescha an.
    »Ist er aber nicht«, sagte Teriasch. »Der Harte Mensch hat nicht geschrien. Seine Beine waren wirklich tot.« Er tippte sich an die Hüfte. »Nur von hier an aufwärts hat er noch gelebt. Pukemasu hat ihn in unser Zelt geholt. Wir haben seine Wunden versorgt und ihn gewaschen. Zwei Sommer war er bei uns. Am Anfang war es nicht leicht, ihn zu verstehen. Und er hatte Angst vor uns und hat nur wenig gesprochen. Vielleicht hat er gehofft, seine Leute würden kommen und ihn heimholen. Oder er fürchtete sich vor den Häuten, die in unserem Zelt aufgespannt waren. Ich glaube, die Harten Menschen verstehen nicht, warum wir sie aufhängen. Dass sie uns dabei helfen, nichts zu vergessen. Nach einer Weile hat er mehr geredet. Pukemasu hat ihm die Bilder auf den Häuten gezeigt und ihn gefragt, was sie in seiner Sprache zeigen. Im ersten Winter war er so weit, dass wir mit ihm reden konnten wie mit einem kleinen Kind. Und dass wir uns in seiner Sprache für ihn anhörten wie kleine Kinder. Je mehr die Sonne wieder an Kraft gewann, desto mehr Worte lernte er von uns und wir von ihm.«
    »Was hat er euch erzählt?«, wollte Dokescha wissen, dessen Furcht einer sichtlichen Neugier gewichen war.
    »Von den großen Lagern, in denen die Harten Menschen leben und die sie Städte nennen«, sagte Teriasch. »Dass sie Hütten und Häuser aus Stein bauen. Dass sie immer wieder Samen an denselben Stellen ausstreuen und warten, bis auf diesen Feldern neue Pflanzen gewachsen sind, deren Samen sie dann wieder ausstreuen. Dass …«
    »Hat er gesagt, dass sie Frauen haben?«, unterbrach ihn Dokescha, den offenbar die Vorstellung plagte, tatsächlich zur Braut eines der Fremden auserkoren zu werden.
    »Sie haben zumindest ein Wort für Frauen und eins für Mädchen und eins für Vetteln«, beruhigte ihn Teriasch. »Und kannst du dir ein Lager ohne Frauen ausmalen?«
    Dokescha schüttelte den Kopf.
    »Siehst du wohl.« Teriasch seufzte. »Ich sollte es dir eigentlich nicht sagen, aber wir wussten nie, ob er die Wahrheit erzählt oder lügt. Manches von dem, was er mir und Pukemasu berichtet hat, kann nicht stimmen. Es gibt keine Dächer aus Gold und keine Menschen mit Hauern wie ein Eber und keine Werkzeuge, um den Lauf der Gestirne vorherzusehen.« Er senkte die Stimme. »Es könnte auch sein, dass er einfach nicht mehr richtig im Kopf war. Immerhin ist er vom Himmel gefallen.«
    »Was ist aus dem Mann geworden?«
    »Er …« So viel Blut so nutzlos vergossen … Teriasch war überrascht, wie sehr ihn die Erinnerung immer noch schmerzte. »Er hat sich eines Nachts die Arme aufgeschnitten. Am Abend vorher war er noch ganz fröhlich gewesen und hat viel gelacht und mit Pukemasu herumgealbert.«
    »Hat er sie gekränkt?«
    »Was?«
    »Hat er an diesem Abend etwas gesagt oder getan, was sie gekränkt haben könnte?«
    »So ist Pukemasu nicht«, sagte Teriasch, als er begriff, worauf der Krieger hinauswollte. »Sie hätte ihn nicht getötet. Wir wollten doch von ihm lernen.«
    »Du kennst sie besser als ich.« Dokescha wiegte den Kopf hin und her. »Aber unser Schamane ist sehr reizbar. Ein falsches Wort genügt, und er …«
    »Er hat sich selbst umgebracht«, fiel ihm Teriasch ins Wort. »Verstanden?«
    »Von mir aus.« Dokescha zwang Teriasch zu einem gemeinsamen Schulterzucken. »Denk, was du willst.« Er versuchte, einen Finger unter den eisernen Ring um sein Handgelenk zu schieben, und scheiterte daran. Er rüttelte an dem kleinen Schloss, das seine Ketten mit denen Teriaschs verband. »Aber eines weiß ich: Der Harte Mensch hat keinen schlechten Weg gewählt, um zu seinen Ahnen zu gehen. Ein besserer Weg, als für immer in eurem Zelt gefangen zu sein.«
    Als die Sonne ihren höchsten Punkt lange überschritten hatte, trieben die Harten Menschen ihre Gefangenen zum Aufbruch an. Die Rüsselschnauze setzte sich an die Spitze des Zuges. Ein Mann saß in einem mit Troddeln geschmückten Holzsattel im gedrungenen Nacken des Tiers, das er durch eine Abfolge von Zungenschnalzern, sachten Hieben mit einem Hakenstock und zarten Zupfern an den Ohren lenkte. Je sechs weitere

Weitere Kostenlose Bücher