Heldenzorn: Roman (German Edition)
hielt. Das Probaska senkte den Kopf, und sein Rüssel schwang nach vorn. Der Muskelschlauch blähte sich ein bisschen, als das Tier vorsichtig an der Ratte schnupperte.
»Jetzt! Jetzt!« Der Junge machte einen kleinen Luftsprung. »Jetzt!«
Das Mädchen zog an dem Faden, und die tote Ratte ruckte ein Stück über das Pflaster.
»He! Lasst das!« Teriasch lief los, doch es war zu spät.
Die Rüsselschnauze trompetete erschrocken und stieg auf die Hinterbeine. Die Kinder lachten, und das Mädchen zupfte noch einmal an dem Faden. Das Tier tapste zwei Schritte nach hinten, begleitet vom Klang des Glöckchens an seinem Schwanz, stolperte über die Kette, die es an den Pfosten fesselte, und ging mit einem jämmerlichen Laut zu Boden. Weiter klagend kämpfte es sich auf die Beine. Wo es auf dem Pflaster gelegen hatte, glänzte Blut. In einer der Hinterbacken steckte ein grüner Glassplitter. Das Probaska reckte den Kopf nach hinten und streckte den Rüssel nach dem Splitter aus, der aber nicht lang genug war, um ihn zu erreichen. In seiner Panik begann das Tier, sich im Kreis zu drehen, und verhedderte sich nur immer mehr in seine Kette.
Na wartet, ihr Quälgeister! Dafür werdet ihr bezahlen! Teriaschs Zorn brach aus ihm hervor, blind und unbeherrscht, eine heiße Woge der Wut. Sie fand ein anderes Ziel als das, was am nächsten lag. Statt von dem kleinen Probaska aufgesogen zu werden, wurde sie von einem anderen Geschöpf angezogen. Nur einen Herzschlag lang wähnte sich Teriasch an einem dunklen, warmen Ort, hörte das Mahlen großer Kiefer und schmeckte nasses Gras auf seiner Zunge. Dann erzitterte die Erde wie unter einem Donnerschlag, der sie in zwei Hälften spalten wollte. Teriasch verlor das Gleichgewicht, sackte in die Knie, sein Kollare glühend heiß. Die tote Ratte hüpfte einen halben Schritt in die Höhe, Pflastersteine knackten und waren mit einem Mal von Rissen überzogen. Die Kinder, die erst Teriaschs Zorn geweckt und dadurch eine noch mächtigere Kreatur in Rage versetzt hatten, wurden von der Wucht der Erschütterungen förmlich von den Beinen gerissen. Sie kreischten wild, schürften sich Stirn, Knie und Hände auf.
Während die Erde bebte und zitterte, erklangen weitere Schreie. »Der Turm! Der Turm!«
Teriasch sah zu dem Bauwerk, in dem die Mutter aller Rüssel gefangen war. Trotz seiner schier unermesslichen Masse schwankte der Turm der Erde wie ein Baum in einem heftigen Sturm. Das Bild drängte sich umso mehr auf, als sich von den Ranken an seiner Spitze zahllose Blätter und Blüten lösten und hinunter in die Tiefe wirbelten, den Straßen und Dächern Kalvakorums entgegen.
Überall um Teriasch herum ergriffen Menschen die Flucht, die nur einen Gedanken kannten – fort vom Turm, ehe er einstürzte und sie alle unter sich begrub! Stände wurden umgerissen, Karren mit teurer Ladung einfach stehen gelassen, Sänften höchst unsanft abgesetzt, Körbe und Krüge beiseite geschleudert. Einzig das gepeinigte Probaska stand nun ganz still, den Rüssel stolz erhoben, als wollte es den Zweibeinern spotten, die angesichts der Macht seiner Ahnin kopflos durcheinanderliefen.
Teriasch fletschte die Zähne. Seht ihr jetzt, wie leicht eure Ordnung zu erschüttern ist, ihr Narren? Was macht es für einen Unterschied, ob man Herr oder Sklave ist, wenn die Erde bebt und man den Tod vor Augen hat? Mit einem Mal verflog seine trotzige Freude über das Chaos unter den Harten Menschen, und die eisigen Finger der Furcht griffen auch nach seinem Herzen. Er sah die Kammer vor sich, in der Silicis die Sklavenflaschen aufbewahrte. Den Felsblock, der über einem anderen hing, an einem lächerlich kleinen Ring aus Skaldat. Was, wenn selbst das Skaldat dieser Urgewalt nicht standhalten kann?
Das Schwanken des Bodens ließ nach, zuerst kaum spürbar, dann immer deutlicher. Die tote Ratte hüpfte nicht mehr auf und ab, das blutende Geschwisterpaar schaffte es, schluchzend aufeinander zuzukriechen und sich fest zu umklammern.
Eine Hand fiel von hinten auf Teriaschs Schulter. »Hock da nicht rum, als hätten sie dir die Beine abgehackt! Wir müssen weg!« Rukabo tänzelte vor ihn, übers ganze runde Gesicht strahlend, zwei Lederbeutel in der Rechten. »Ich habe gerade ein sehr gutes Geschäft mit einer feigen Kröte gemacht!« Der Halbling half ihm beim Aufstehen. »Fünfzehn Rota, die wir auf den Kopf hauen können, und ein Sack Perlen für Silicis! Schnell jetzt, bevor Kaupodor merkt, dass der Turm noch
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