Heldin wider Willen
geblümten Bezüge der Sessel und langen Polsterbänke zeigten traditionelle Aufdrucke. Sie waren stärker orange und gelb gehalten und weniger rot und rosa, als Esmay in Erinnerung hatte. »Möchten Sie Tee? Oder einen Drink?« Sie läutete, ohne auf Antwort zu warten; sie wusste, dass das Küchenpersonal seit seinem Eintreffen damit 130
beschäftigt war, das Tablett mit seinen Lieblingssachen
vorzubereiten, was auch immer die waren.
Sie lud ihn ein, sich in einen der breiten, niedrigen Sessel zu setzen, das Tablett seitlich davon, und nahm selbst links von ihm Platz, an der Herzensseite, um zu demonstrieren, dass sie sich der familiären Bindung bewusst war.
Der alte Sebastian sah sie augenzwinkernd an. »Sie haben uns stolz gemacht«, sagte er. »Und für Sie ist das alles vorbei, die schlechten Zeiten, meine ich, hm?«
Esmay hob die Brauen. Wie konnte er das denken, wenn sie doch weiter bei der Flotte war? Sie musste in Zukunft mit weiteren Gefechten rechnen; sicherlich war ihm das klar.
Vielleicht meinte er damit die jüngsten Schwierigkeiten.
»Ich hoffe jedenfalls, dass ich nie wieder vor einem
Kriegsgericht stehen muss«, sagte sie. »Oder eine Meuterei erleben muss, wie sie dem vorausgegangen war.«
»Sie haben sich doch gut geschlagen. Allerdings hatte ich das nicht gemeint, obwohl ich sicher bin, dass es unerfreulich genug war. Aber treten keine der alten Albträume mehr auf?«
Esmay wurde steif. Woher wusste er von ihren Albträumen?
Hatte ihr Vater diesen Mann ins Vertrauen gezogen? Ganz
bestimmt würde sie ihm nichts darüber erzählen. »Mir geht es gut«, sagte sie.
»Gut«, sagte er. Er hob sein Glas auf und nippte daran. »Ah, das ist gut! Wissen Sie, selbst als ich noch im Dienst war, hat Ihr Vater nie mit den guten Sachen geknausert, wenn ich zu Besuch kam. Natürlich wussten wir beide, dass das etwas
Besonderes war, nichts, was man herumerzählte.«
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»Was?«, fragte Esmay ohne große Neugier.
»Ihr Vater – er wollte nicht, dass ich darüber redete, und ich hatte Verständnis für seinen Standpunkt. Sie hatten dieses Fieber und wären beinahe daran gestorben. Er war sich nicht sicher, woran Sie sich noch erinnerten und welches die
Fieberträume waren.«
Esmay zwang sich zur Ruhe; am liebsten wäre sie weggerannt wie früher. »Es waren die Träume«, sagte sie. »Nur das Fieber, sagte man mir, etwas, das ich mir einfing, als ich weggelaufen war.« Sie brachte ein Lachen zustande. »Ich kann mich nicht mal daran erinnern, welches Ziel ich zu haben glaubte, geschweige denn daran, wo ich letztlich angelangt bin.«
Sie erinnerte sich an eine albtraumhafte Zugfahrt und an Fragmente von etwas anderem, worüber sie lieber nicht
nachdenken wollte.
Sie wusste nicht, welche winzige Regung es verriet – ein zuckendes Augenlid, eine Muskelspannung entlang des
Unterkiefers –, aber ihr war sofort klar, dass er etwas wusste.
Etwas, das ihr unbekannt war, das er ihr nur zu gern gesagt hätte, während er gleichzeitig fühlte, er müsste es verbergen.
Ihre Kopfhaut juckte. Wollte sie es denn erfahren, und falls ja, konnte sie ihn bewegen, es ihr zu erzählen?
»Nun, Sie sind losgezogen, um Ihren Vater zu finden … das war einfach zu verstehen. Ihre Mutter war gestorben, und Sie brauchten ihn, und er steckte mitten im Getümmel eines
hässlichen kleinen Gebietsstreits. Damals hatte der
Borlistenzweig der Altgläubigen beschlossen, aus dem re—
gionalen Planungsnetzwerk auszusteigen und den oberen
Grabenbruch zu übernehmen.«
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Esmay wusste von dieser Geschichte, die dem Begriff Streit nicht gerecht wurde: der Califer-Aufstand war ein Bürgerkrieg gewesen, kurz, aber heftig.
»Niemand wusste, dass Sie so gut lesen konnten, geschweige denn eine Karte … Sie sind mit Proviant für eine Woche auf Ihr Pony gesprungen und losgeritten …«
»Auf einem Pony? « Das konnte sie sich kaum vorstellen; sie war schließlich nie gern geritten. Eher hätte sie von ihrem jüngeren Selbst erwartet, sich auf einen Lastwagen zu
schmuggeln, der in die Stadt fuhr.
Seb wirkte verlegen – sie konnte sich nicht vorstellen, warum
– und kratzte sich am Hals. »Damals sind Sie geritten wie eine Zecke auf einem Hütehund, und das mit ebenso viel Spaß. Sie sind kaum jemals von dem Pony gestiegen, bis Ihre Mutter starb, und man war nur zu froh, dass Sie dann wieder in den Sattel stiegen. Bis Sie verschwunden sind.«
Daran erinnerte sie sich nicht – an eine Zeit, in der sie freiwillig so
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