Heldin wider Willen
viele Stunden auf dem Pferderücken verbrachte.
Woran sie sich erinnerte, das war ihre Abscheu davor, die Reitstunden und die wunden Muskeln und die ganze Plackerei des Hufereinigens und Striegelns und Ausmistens. War es denn möglich, dass eine Krankheit ihr nicht nur die Freude am Reiten geraubt hatte, sondern auch jede Erinnerung an eine Zeit, in der sie es noch gern getan hatte?
»Ich vermute, Sie hatten richtig gut geplant«, fuhr er fort,
»denn Ihre Spuren waren nirgendwo aufzufinden. Niemand kam darauf, was Sie tatsächlich getan hatten; man dachte, Sie hätten sich verirrt oder wären in die Berge hinaufgestiegen und dort verunglückt. Und niemand hat je die ganze Geschichte erfahren, 133
denn als wir Sie fanden, war nicht viel aus Ihnen herauszu-bekommen.«
»Das Fieber«, sagte Esmay. Sie schwitzte inzwischen; sie spürte es wie einen kränklichen Schleim am ganzen Leib.
»So hat es Ihr Vater erklärt.« Das hatte Sebastian schon vorher gesagt; jetzt fand seine Stimme Widerhall in Esmays Gedächtnis, und ihre neue Fähigkeit als Erwachsene, Aus-drucksnuancen zu deuten, verglich die beiden Versionen und entdeckte versteckte Ungläubigkeit.
»Mein Vater hat es gesagt?«, fragte Esmay in bedacht vorsichtigem Ton, ohne Sebastian ins Gesicht zu blicken. Nicht direkt jedenfalls; sie erkannte den Pulsschlag an seiner Kehle.
»Sie hätten durch das Fieber alles vergessen, und es wäre so zum Besten, sagte er. Bring das Thema nicht mehr zur Sprache, sagte er. Naja, ich vermute, inzwischen ist Ihnen klar, dass nicht alles geträumt war… Ich vermute, diese Psychopfleger der Raumflotte haben es ausgegraben und Ihnen geholfen, damit fertig zu werden, hm?«
Sie war erstarrt; sie kochte im eigenen Entsetzen. Kalt und heiß zugleich, dichter an irgendeiner schrecklichen Wahrheit, als sie wollte, und doch unfähig zurückzuweichen. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Kopf ruhen, und wusste, falls sie aufsah, wäre sie nicht in der Lage, ihr Grauen und ihre Verwirrung zu verstecken. Stattdessen beschäftigte sie die Hände mit dem Geschirr, das die Schnitten und Beilagen trug, schenkte Tee nach, überreichte eine zierliche Tasse und Untertasse mit dem Spritzmuster, das diesen silbernen Schimmer zeigte … Und sie konnte kaum glauben, dass ihre Hände so ruhig waren.
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»Nicht, dass ich gegen Ihren Vater hätte Einwände vorbringen können. Nicht unter den damaligen Umständen.«
Unter den jetzigen Umständen hätte Esmay ihm mit Begeisterung den Hals umdrehen können, aber sie wusste, dass es nichts genützt hätte.
»Es war nicht nur meine Pflicht gegenüber meinem
Kommandeur, sondern … er war auch Ihr Vater. Er wusste es am besten. Nur ich habe mich manchmal gefragt, ob Sie sich an etwas vor dem Fieber erinnerten. Ob es vielleicht daran lag, dass Sie sich verändert hatten …«
»Nun, meine Mutter war gestorben«, brachte Esmay hervor.
Ihre Stimme war so ruhig wie die Hände. Wie war das nur
möglich, während das Entsetzen an den Wurzeln ihres
Verstandes rüttelte? »Und ich war so lange krank gewesen …«
»Wären Sie meine Tochter gewesen, dann, denke ich, hätte ich es Ihnen gesagt. Es hilft auch Rekruten, nach einem übel verlaufenen Gefecht die Dinge durchzusprechen.«
»Mein Vater war anderer Meinung«, sagte Esmay. Staub
konnte auch nicht trockener sein als ihr Mund; sie spürte, wie allmählich Dürrespalten ihren Verstand durchzogen und sich darunter bodenlose Mäuler öffneten, um sie zu verschlucken …
»Ja. Naja, jedenfalls freue ich mich, dass Sie schließlich doch Gelegenheit fanden, sich damit auseinander zu setzen. Aber es muss schwer gewesen sein, als Sie sich gegen diese
verräterische Kommandantin stellten, mit diesem zweiten Verrat konfrontiert waren …« Die Stimme, die zunächst beinahe
nachdenklich geklungen hatte, gewann an Schärfe. »Esmaya! Ist irgendwas nicht in Ordnung? Es tut mir Leid, ich wollte
nicht…«
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»Es wäre äußerst hilfreich, wenn Sie mir die Geschichte
einfach von Ihrem Standpunkt aus erzählen könnten«, brachte Esmay mühsam hervor; ihre Stimme wurde jetzt immer dicker, während der Staub sie zu eckigen Blöcken steinharten Tons zusammenpresste. »Vergessen Sie nicht, ich hatte bislang nur Zugriff auf die eigenen, etwas bruchstückhaften Erinnerungen, und die Psychopfleger fanden sie ein bisschen dürftig.« Die Psychopfleger hätten sie dürftig gefunden, falls sie sie überhaupt entdeckt hätten. Sie waren davon ausgegangen, dass
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