Heldin wider Willen
jeder von Esmays Herkunft mit solchen Problemen schon früher behandelt worden wäre. Und da sie selbst aufgrund der beharrlichen Aussagen in der eigenen Familie überzeugt gewesen war, dass alle Inhalte dieser Albträume nur auf das Fieber zurückgingen, hatte sie sich davor gefürchtet, den Psycholeuten überhaupt zu sagen, dass sie Probleme hatte. Sie hatte befürchtet, dass man sie womöglich als verrückt oder instabil, als dienstunfähig bezeichnete … dass man sie ablehnte und sie als Versagerin nach Hause zurückkehrte. Hatte die Familie deshalb mit ihrem Scheitern gerechnet, bis hin zu dem Punkt, dass man das
Wanderpferd für sie bereithielt?
»Vielleicht sollten Sie Ihren Vater fragen«, sagte Coron zweifelnd.
»Ich vermute, er wäre wenig erfreut, wenn jemand sein
Urteilsvermögen in Frage stellte«, sagte Esmay mit aller Aufrichtigkeit. »Und seien es auch die psychiatrischen
Spezialisten der Flotte.« Coron nickte. »Es wäre mir eine Hilfe
– falls es Ihnen nichts ausmacht.«
»Falls Sie sicher sind«, versetzte Coron. Sie musste für einen Augenblick seinen Blick erwidern, die Besorgnis darin ertragen, die Spannung in den Falten rings um die Augen, die gefurchte 136
Stirn. »Es ist keine erfreuliche Geschichte – aber natürlich wissen Sie das schon.«
Übelkeit bäumte sich in ihren Eingeweiden auf und schickte saure Signale an ihren Mund. Noch nicht!, flehte sie sie an.
Nicht, bis ich es weiß! »Ich bin mir sicher.«
Es war eine Zeit des Aufruhrs und der gesellschaftlichen Auflösung gewesen, in der ein einzelnes kleines Kind, falls es entschlossen und seiner Sache sicher war, einige tausend Kilometer erst mit dem Pony und dann mit dem Zug zu-rücklegen konnte. »Sie hatten sich schon immer darauf verstanden, Erklärungen abzugeben«, sagte Coron. »Sie konnten sich in dem Augenblick eine Geschichte ausdenken, in dem Sie erwischt wurden. Ich schätze, deshalb hat Sie auch niemand wirklich zur Kenntnis genommen; Sie spannen irgendein Garn, man hätte Sie zu einem Tantchen oder einer Großmutter
geschickt, und da Sie sich weder ängstlich noch verwirrt benahmen und genug Geld dabeihatten, ließ man Sie in die Züge einsteigen.«
All das beruhte auf Annahmen; man hatte ihren Weg nicht
nachverfolgen können von dem Zeitpunkt, als sie das Pony hatte stehen lassen – es wurde nie gefunden, und in jenen Tagen konnte es sehr gut in irgendjemandes Kochtopf gelandet sein –, bis zum letzten Abschnitt ihrer Reise, dem Zug, der sie mitten in die Katastrophe gebracht hatte.
»Die letzten Depeschen, die zu Hause eintrafen, hatten die Garnison Buhollow als Standort Ihres Vaters genannt, und dorthin war der Zug eigentlich unterwegs. Inzwischen hatten die Rebellen jedoch das östliche Ende des Countys überrannt und 137
alle ihre Kräfte in einen Angriff auf das große Waffendepot von Bute Bagin geworfen. Die Truppen in Buhollow waren zu
schwach, um sie aufzuhalten, weshalb Ihr Vater seitlich
auswich, in ihren Rücken vordrang und sie dort vom Nachschub abschnitt, während die Tenth Cavalry von Cavender heranrückte und sie an der Flanke angriff.«
»Daran erinnere ich mich noch«, sagte Esmay. Sie wusste es aus den Aufzeichnungen, nicht aufgrund eigener Erlebnisse. Die Rebellen hatten sich darauf verlassen, dass ihr Vater stets seiner Reputation gerecht wurde, woraus sie den Schluss zogen, dass er einen Happen wie Buhollow nie ungeschützt zurücklassen würde … Sie hatten geplant, seine Truppen dort mit Teilen der eigenen Armee festzunageln, während der Rest nach Bute Bagin marschierte und die dortigen Vorräte ergatterte. Später wurde die Entscheidung ihres Vaters, Buhollow aufzugeben und der Rebellenarmee eine Falle zu stellen, als Beispiel taktischer Brillanz in die Lehrpläne aufgenommen. Er hatte für die Stadt getan, was er konnte; die Zivilbevölkerung von Buhollow war vor den Rebellen geflohen; man hatte den Menschen auch
gesagt, wohin sie sich wenden sollten. Die meisten von ihnen überlebten.
Esmay jedoch, die eingezwängt zwischen Flüchtlingen von
früheren Kämpfen saß, fuhr mit dem Zug zwei Stationen zu weit. Beide Seiten hatten die Bahnlinie vermint; obwohl die offiziellen Berichte behaupteten, eine Mine der Rebellen hätte die niedrige Brücke über den Sinetskanal hochgejagt, als gerade die Lokomotive hinüberfuhr, war Esmay nie ganz davon
überzeugt. Würde denn irgendeine Regierung je zugeben, dass die eigenen Minen den eigenen Zug in die Luft gejagt
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