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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Moon
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hatten?
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    Sie erinnerte sich jedoch an den enormen Ruck, der den
    Waggon verformte. Die Fahrt war langsam verlaufen; sie selbst saß zwischen einer fetten Frau mit einem weinenden Baby und einem dünnen älteren Jungen, der Esmay immer wieder
    zwischen die Rippen stieß. Der Ruck erschütterte den Wagen, warf ihn jedoch nicht um. Andere hatten weniger Glück. Sie erinnerte sich gerade noch daran, wie sie von der Trittstufe sprang – ein großer Sprung für ihr Alter – und der Frau mit dem Baby folgte, nur deshalb, weil die Frau eine Mutter war. Der dürre Junge stieß sie noch einmal und lief dann hinter jemand anderem her. Reihenweise liefen erschrockene Menschen von dem Zug weg, weg von dem quellenden Rauch und den
    Schreien aus den vorderen Wagen.
    Esmay verlor die Orientierung; sie vergaß zunächst auch, in welche Richtung sie sich eigentlich wenden sollte. Sie lief der Frau und dem Baby nach … Diese wiederum folgte anderen
    Leuten … Und dann wurden Esmays Beine müde, und sie blieb stehen.
    »Dort lag ein kleines Dorf, das die Einheimischen Greer's Crossing nannten«, fuhr Coron fort. »Nicht mal einen Kilometer von den Gleisen entfernt an der Stelle, wo der Kanal eine Biegung machte. Dorthin müssen Sie sich gewandt haben,
    zusammen mit anderen Menschen aus dem zerstörten Zug.«
    »Und zu der Zeit zogen die Rebellen dort hindurch«, sagte Esmay.
    »Und zu der Zeit zog der Krieg dort hindurch.« Coron legte eine Pause ein; sie hörte das leise Schlürfen, als er einen Schluck Tee nahm. Sie sah auf und begegnete einem Blick, an dem jetzt nichts Augenzwinkerndes mehr war. »Es waren nicht nur die Rebellen, wie Sie nur zu gut wissen.«
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    Tue ich das?, fragte sie sich.
    »Dort etwa wurde den Rebellen klar, dass man sie in eine Falle trieb. Sagen Sie über Chia Valantos, was Sie möchten, aber er hatte ein taktisch denkendes Hirn zwischen den Ohren.«
    Esmay gab einen Laut von sich, der Zustimmung ausdrücken sollte.
    »Und vielleicht hatte er gute Späher – ich weiß es nicht.
    Jedenfalls bewegten sich die Rebellen auf der alten Straße, weil sie ein paar schwere Fahrzeuge hatten, und deshalb mussten sie das Dorf durchqueren, um die Brücke zu erreichen. Sie richteten üble Verwüstungen im Dorf an, weil die Leute dieser Gegend sie nie unterstützt hatten. Ich schätze, sie dachten auch, dass die Menschen aus dem Zug etwas mit den Loyalisten zu tun hatten
    …«
    Die alten Erinnerungen bahnten sich gewaltsam den Weg
    nach oben und klumpten unter Esmays gefasster Oberfläche; sie spürte, wie sich ihre Züge veränderten, und bemühte sich, die Muskeln still zu halten. Die Beine taten ihr inzwischen weh, nach all den Stunden im Zug, dem Krach, dem Sturz … Die
    Frau hatte längere Beine und machte längere Schritte, sogar mit dem Baby auf dem Arm. Esmay fiel zurück, und als sie das Dorf erreichte, existierte es nicht mehr. Die Dächer waren schon eingestürzt; was an Mauern noch stand, war beschädigt und schief. Rauch wehte über Straßen hinweg, die übersät waren mit Steinen und Müll und Ästen und Haufen alter Kleider. Es war laut; Esmay konnte die Geräusche nicht einordnen, nur
    feststellen, dass sie ihr Angst einjagten. Sie waren zu laut; sie klangen wütend und vermischten sich in ihrer Vorstellung mit der Stimme des Vaters, der sie schalt. Sie sollte doch nicht so nahe an etwas herangehen, was solche Geräusche machte!
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    Geblendet vom stechenden Qualm, stolperte sie über einen Haufen alter Kleider und erkannte erst in diesem Augenblick, dass es ein Mensch war. Eine Leiche, korrigierte ihr
    erwachsenes Denken sie. Das Kind, das sie gewesen war, fand, dass es eine dumme Stelle war, um sich schlafen zu legen, und das von einer ausgewachsenen Frau; Esmay schüttelte deren schlaffen Arm, versuchte eine Erwachsene zu wecken, damit sie ihr half, sich zu orientieren. Sie war dem Tod noch nie
    begegnet, nicht dem Tod von Menschen –man hatte ihr wegen des Fiebers nicht erlaubt, ihre Mutter zu sehen –, und sie brauchte lange, um zu erkennen, dass die Frau ohne Gesicht sie niemals aufheben und beruhigen und ihr versprechen würde, alles würde bald wieder in Ordnung sein.
    Sie blickte sich um und blinzelte, um sich von dem Brennen in den Augen zu befreien, das nicht nur vom Rauch ausging, und sie sah die übrigen Kleiderbündel, die übrigen Menschen, die Toten – und die Sterbenden, deren Schreie sie jetzt erkannte.
    Über all die Jahre hinweg erinnerte sie sich noch, dass der erste

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