Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
schlagen gerne aus diesem Zehn-Prozent-Mythos Kapital.
Mythos 4: «Die beiden Hirnhälften repräsentieren völlig unterschiedliche Leistungen, Menschen unterscheiden sich danach, welche Hemisphäre bei ihnen bevorzugt aktiv ist.»
Es gibt aber keine Belege dafür, dass die jeweilige Hirnhälfte spezialisiert sei und dass es reine Linkshemisphäriker oder Rechtshemisphäriker gebe. Links denken und logisch vorgehen, rechts intuitiv und kreativ sein – das gibt es nicht. Die Annahme, die verschütteten und unterdrückten Talente der rechten Hirnhälfte müssten im Interesse des Überlebens der Welt und der Menschheit gefördert werden, ist der Esoterik zuzuordnen.
Esoterisch ist ferner auch die Vorstellung, die rechte Hirnhälfte entspreche der weichen, empfindsamen Seite der Frau (Yin), während die linke Hirnhälfte den harten Wesenszügen des Mannes (Yang) entspreche. Allein darin steckt bereits ein großer Denkfehler. Denn Frauen besitzen im Allgemeinen nachweislich eine größere sprachliche Intelligenz als Männer, und die Sprache «sitzt» nun einmal in der «bösen» linken Gehirnhälfte. Dafür kommen Männer im Schnitt besser mit räumlichen Aufgaben zurecht, obwohl die räumliche Intelligenz in der «guten» rechten Hemisphäre wohnt. Wir wissen auch, dass Kreativität und Intuition vor allem mit einem engen Zusammenspiel beider Hemisphären zu tun haben.
Auch seriöse Neurobiologen halten den ganzen Hemisphärenmythos für blanken Unsinn. Das schwerste Geschütz fährt der Neurologieprofessor Robert Efron aus San Diego in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel «Niedergang und Fall der hemisphärischen Spezialisierung» auf: «Der Forscherzweig, der sich mit Leistungsunterschieden zwischen den beiden Hemisphären beschäftigt, ist hirntot.» Dr. Dietmar Heubrock vom Institut für Rehabilitationsforschung der Universität Bremen bestätigt: «Die Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren haben zeigen können, dass es keine Alltagstätigkeit gibt, bei der nicht die linke und die rechte Gehirnhälfte aktiviert sind und zusammenarbeiten. Die Sprache ist auf beiden Seiten des Gehirns repräsentiert, und zwar in den korrespondierenden Regionen. Die Zentren auf der linken Seite werden stärker von den zentralen Aspekten der Sprache wie Grammatik und Wortbildung beansprucht, während die rechte Seite in höherem Maße zur Intonation und zur Satzmelodie beiträgt.»
Ein eigenartiges Menschenbild
Hinter all den Mythen und Versprechungen steckt ein reichlich materialistisches, biologistisches, reduktionistisches, im Grunde triviales Menschenbild. Hier werden Gedanken, Erinnerungen, Empfindungen als Formen der Erscheinung von Materie betrachtet. Alles ist ja angeblich zerebral, also neurophysiologisch, determiniert. Deshalb leugnen viele Forscher, dass es einen freien Willen gibt. Nur ihre Erkenntnisse sollen für Produkte des freien Willens gehalten werden, so jedenfalls versuchen sie es uns zu suggerieren.
Der renommierte SWR-Journalist Ralf Caspary setzt sich unter anderem kritisch mit dem Menschenbild der Hirnforschung auseinander. Der Titel seines 2010 erschienenen Buchs lautet: «Alles Neuro? – Was die Hirnforschung verspricht und nicht halten kann». In wohltuender Weise hält Caspary fest: «Menschen sind das, was sie sind, nun einmal nicht nur durch ihre Natur [Caspary meint die Hirnzellen, A.d.A.], sondern vor allem durch ihre Kultur.»
Sodann fragt Caspary: «Wenn die Hirnforscher recht haben mit der Annahme, dass der Mensch keinen freien Willen hat und die Neuronen dem Menschen diktieren, was er zu tun hat, dann müsste das natürlich für sie selbst gelten. Warum nehmen sie sich dann aber, wenn es um ihre neuen Erkenntnisse und deren mediale Verbreitung geht, so wichtig?» Stattdessen, so Caspary weiter, scheinen Hirnforscher für sich etwas gepachtet zu haben, was sie den anderen abstreiten: Objektivität, naturwissenschaftliche Exaktheit, Resistenz gegenüber Weltanschauungen und Spekulationen.
Die Sache mit dem praktischen pädagogischen Nährwert
Zu wissen, wo im Gehirn etwas abläuft, sagt gar nichts darüber aus, wie es abläuft und wie man es gezielt initiieren kann. Zur Scharlatanerie wird Hirnforschung, wenn sie für ideologische Zwecke instrumentalisiert wird, wenn etwa behauptet wird, die Hirnforschung habe bewiesen, dass ein längeres gemeinsames Lernen qua verlängerter Grundschule oder Gesamtschule sinnvoll sei. Hier wird Hirnforschung zur unverantwortlichen Irreführung einer
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