Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Elternschaft, die nach Informationen über frühe Hirnentwicklung lechzt.
Eltern sollten nicht dazu verführt werden zu glauben, dass sie auf die intellektuelle Entwicklung mehr Einfluss haben, als es die genetische Prädisposition vorgibt. Sie können mit ihrem Nachwuchs «Brain-Gym» und Gehirnjogging machen, sie trainieren damit aber nichts anderes als das Lösen von Denksportaufgaben, nicht jedoch die Intelligenz. Oder einfacher: Wer ständig Kreuzworträtsel und Sudokus löst, der verbessert durchaus seine Vigilanz – also seine Wachheit –, aber nicht unbedingt sein Konzentrations- bzw. sein kognitives Gesamtvermögen. Eltern oder deren Nachwuchs sollten auch nicht auf zukünftige und angeblich bereits vorhandene Segnungen eines «Cognitive Enhancement» und eines «Mind Doping» hoffen. Deshalb ist es schwer nachvollziehbar, warum der Konsum von Methylphenidat (Ritalin) exponentiell gestiegen ist. Der Konsum dieses Wirkstoffs vermag die kognitiven Fertigkeiten nicht zu steigern, allenfalls vorübergehend, und bei erheblichem Suchtpotenzial die Vigilanz.
Immer häufiger gewinnt man den Eindruck, dass mit dem Neurohype Fragen beantwortet werden, die niemand gestellt hat, weil sie aus der milliardenfachen Erfahrung von Eltern mit Kindern und von Lehrern mit Schülern längst beantwortet sind. Die pädagogischen Empfehlungen der Hirnforscher erscheinen zu einem erheblichen Teil so trivial, dass es sich nicht lohnt, ihre Richtigkeit unter Beweis zu stellen. Wer würde schon bestreiten wollen, dass Neugier und eine intrinsische Motivation gute Lernvoraussetzungen darstellen?
Eine pädagogische Revolution wird die Gehirnforschung nicht einleiten. Die Neuroforschung ist noch viele, viele Jahre davon entfernt, die Vision des Nürnberger Trichters aus der Barockzeit ins Praktische umzusetzen. Dieser Trichter ist dargestellt auf einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert und zu besichtigen in der Nürnberger Stadtbibliothek. Auf ihm sind drei Männer abgebildet, die einem vierten alles Mögliche eintrichtern. Darüber steht: «Seht, liebe Leut’, hie steht der Mann, so alle Kunst eingießen kann». Eine solche Nürnberger-Trichter-Vision scheint heutzutage durch manche Auswüchse der Hirnforschung fröhliche Urständ zu feiern.
Man sollte sich unaufgeregt auf die klassische Lern- und Gehirnforschung einlassen: Man kann Kleinstkindern noch so viel programmiertes Vorschullernen vorsetzen, man kann sie im Mutterleib noch so sehr mit Mozart oder Bach beschallen, es hat alles keinen Zweck. Man produziert damit keine «Little Giants». Ein normales Elternhaus mit Vorlesen, Reden, Singen, Naturbegegnung, Verlässlichkeit reicht. Ein Zuviel an inszenierter (Früh-)Förderung ist schädlich. Vor allem ist es Unsinn, mit gesunden Kindern eine Förderung anzufangen, die für beeinträchtigte Kinder konzipiert wurde.
Im Umfeld eines normalen Elternhauses sucht sich das heranreifende Gehirn dann sehr autonom die Reize und Anregungen, die es braucht. Oder noch einfacher: «Sperren Sie Ihr Kind nicht in den Schrank, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie ihm nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf.» So hat der US-Neurowissenschaftler Steve Petersen von der Washington University in St. Louis die Erkenntnisse der pädagogisch relevanten Neuroforschung zusammengefasst.
Ob Deutschlands Schüler besser abschneiden, wenn sie alle die 64 Seiten des Bändchens «Gehirnforschung für Kinder – Felix und Eline entdecken das Gehirn» (2009) von Gerald Hüther gelesen und zum Beispiel die Analogien, die der Autor zwischen einem Gehirn und einer Zwiebel konstruiert, verstanden haben werden? Wie hilfreich ist es zu lesen: «Meine Zwiebel im Kopf denkt»?
Keine feindliche Übernahme durch «Neuro»
Nein, es steht keine «feindliche Übernahme» der Lehr-Lern-Forschung durch die Neurowissenschaften an. Das Erfahrungswissen von Eltern und Lehrern durch wissenschaftliche Wissensbestände ersetzen zu wollen, so Elsbeth Stern, sei unmöglich. Zwar könne es nicht schaden, wenn Lehrer die Rolle von Hippocampus und Mandelkern kennen, aber dieses Wissen versetzt sie nicht in die Lage, ihren Schülern den Unterschied zwischen Masse und Gewicht oder die Bruchrechnung nahezubringen. Die Ergebnisse der Hirnforschung unterstützen ansonsten all das, was gute Lehrer wissen und in ihrem Handeln daraus ableiten.
Lernen muss mehrkanalig sein: Je mehr Sinneskanäle angesprochen werden, desto effizienter und effektiver speichert das
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