Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Gedächtnis. Das heißt: Man muss möglichst immer mit allen Sinnen lernen – zumindest mit Auge und Ohr zugleich. Wir wissen jedenfalls, dass wir folgende Anteile des Wahrgenommenen im Gedächtnis behalten: 10 Prozent, wenn wir es nur lesen; 20 Prozent, wenn wir es hören; 30 Prozent, wenn wir es sehen; 50 Prozent, wenn wir es hören und sehen; 70 Prozent, wenn wir es selbst sagen; 90 Prozent, wenn wir es selbst tun. Unsinn aber ist es anzunehmen, dass es einen typengerechten visuellen, auditiven, kinästhetischen, dialogischen, abstrakten und andere Lerntypen mehr gebe. Wer meint, durch Lerntypentests herauszufinden, über welchen Kanal der Einzelne am besten lernt, blockiert im Endeffekt das, was die Voraussetzung von Lernen ist, nämlich das Lernen auf die Situation und auf den Inhalt einstellen zu können.
Übung macht den Meister: Ohne Übung geht nichts. Nur der kleinere Teil der Lernstoffe ist so attraktiv, dass er sich mit einem Mal einprägt. Für das Gros gilt: Nur mit regelmäßigem Wiederholen sedimentiert sich der Lernstoff vom Ultrakurzzeitgedächtnis ins Kurzzeitgedächtnis und dann ins Langzeitgedächtnis. Das gilt für so ziemlich alle Lernbereiche: Ein routinierter Fließbandarbeiter hat einen Handgriff eine bis zwei Millionen Mal getan, bis er optimal automatisiert ist. Ein guter Musiker hat bis zum 20. Lebensjahr circa 10000 Übungsstunden hinter sich. Soll Virtuosität erreicht werden – das gilt für die Musik ebenso wie für die Sprache –, muss das Lernen also lange währen. «Wissen, nicht Intelligenz ist der Schlüssel zum Können» (Elsbeth Stern). Deshalb bringt ein Lernen des Lernens wenig. Aber das Auswendiglernen ist gut, weil das Gelernte dann praktisch auf Festplatte gespeichert wird und der Arbeitsspeicher damit frei bleibt.
Wichtig ist verteiltes Lernen: Vor allem im Bereich des prozeduralen Gedächtnisses ist dies notwendig wie beim Schreibmaschineschreiben oder Musikinstrumenterlernen. Hier ist es besser, etwa viermal eine Viertelstunde als einmal eine ganze Stunde zu üben. Das gilt auch für das Erlernen von Vokabeln. Grundsätzlich gilt außerdem: Das Wiederholen soll in länger werdenden Abständen erfolgen. Und es gilt: Lernen in letzter Minute schadet. Deshalb ist es entscheidend, frühzeitig zu beginnen. Fängt man zu spät an, kommt es zu einer «ekphorischen» Gedächtnishemmung, also zu einer Hemmung beim Abrufen des Gelernten.
Lernen braucht Entspannung und ausreichend Schlaf: Es ist wichtig zu wissen, dass zu Beginn des Lernens die Effektivität am größten ist. Sobald es mühseliger wird, sollte man eine Pause einlegen. Man kann auch zu viel des Guten tun. Das nennt man dann «Überlernen». Wer beim Lernen über seine Kapazitätsgrenzen geht, begreift am Ende gar nichts mehr. Ohne Pausen erkennen die Neuronen nicht mehr, was sie speichern sollen.
Belohntes bzw. Verstärktes bleibt dauerhafter im Gehirn: Deshalb ist Lob wichtiger als Tadel. Das wusste schon der alte Johann Amos Comenius (1592–1670): «Alles, was beim Lernen Freude macht, unterstützt das Gedächtnis.» Und Friedrich Nietzsche (1844–1900) betonte: «Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit als im Tadel.» Leider handeln so manche Eltern und Lehrer nicht immer nach diesen Grundsätzen.
Neugier fördert das Lernen: Allen Säugetieren ist gemeinsam, dass ihre Heranwachsenden ausgesprochene Neugierdewesen sind. Ein Zuwenig an Anregung führt zu Deprivation. Fehlt außerdem ein Sozialpartner, so ist das gesamte Neugier- und Spielverhalten deutlich reduziert. Ein Zuwenig an Sicherheit schränkt die Entwicklung ebenfalls ein, denn dann verbraucht ein Lebewesen die gesamte Zeit und Energie für Nahrungssuche und Selbstsicherung. Beide Defizite bremsen das Neugier- und Spielverhalten.
Elternflüsterer ohne Zahl
Wenn das Angebot an Ratgebern und die Nachfrage danach ein Indikator für den Zustand elterlicher Erziehung sind, dann war keine Elterngeneration so unsicher wie die heutige, dann hat aber auch keine jemals engagierter erzogen. Je weniger Kinder es in Deutschland gibt, desto mehr Erziehungsratgeber erscheinen. Die arbeiten mit dem Schuldgefühl der Eltern und mit der Angst, etwas zu versäumen. Dementsprechend einfach ist ihre Botschaft: Eltern können eigentlich nichts richtig machen. Zu diesem Zweck werden gern Klischees falscher Erziehungspraktiken verbreitet.
Eingesetzt hat dieser Boom bereits zwischen den Weltkriegen, zu einer Zeit, als die behavioristische Lernforschung und die
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