Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Lüneburger Anthropologen Dieter Neumann (2008) brechen hier «religiöse Muster durch: Niemand ist verloren, jeder kann gerettet werden.»
«No Child Left Behind» heißt ein Bildungsgesetz, das in den USA seit 2002 in Kraft ist. Kein Kind verloren geben, die Pädagogik wird es schon richten. Das ist «Religion» – entstanden aus der Sorge um die Zukunft des Kindes in einer verworren anmutenden Welt.
Es ist zutreffend, wenn Norbert Bolz meint, drei Kandidaten würden in der Welt von heute den gnädigen Gott ersetzen: die gerechte Gesellschaft, die heile Natur und das wahre Selbst. Vor allem im Letzteren sieht Bolz den Gegenstand der heimlichen Religion der modernen Gesellschaft. Einen vierten Kandidaten hat Bolz vergessen, es sei denn, man betrachtet diesen vierten Kandidaten als Ersatz-Selbst – das Kind nämlich. An anderer Stelle artikuliert Bolz diesen Gedanken allerdings, nämlich wenn er Kindlichkeit als «die Signatur unserer Zeit» sieht und feststellt, dass Kindheit heute als schier sakrosankt betrachtet wird, also – wörtlich – zugleich als «sacrum» und «sanctus», und damit als unverletzliche Heiligkeit.
Von vielen Eltern – bisweilen von Teilen der Politik und Gesellschaft – wird das Kind als etwas Göttliches betrachtet. Eltern scheuen sich nicht zu bekennen, dass sie ihr Kind «abgöttisch» lieben, und sie überhöhen kindliche Eigenheiten – etwa Kreativität und Intuition – geradezu kultisch. Dass eine Vergötterung der Kinder für diese eine gewaltige Last ist, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls scheint es, wie wenn die Theodizee als die Lehre von der Rechtfertigung Gottes in einer Welt der Übel eine Art «Pädodizee» an die Seite bekommen habe: eine Rechtfertigung «schöpferischer» Pädagogik in einer verkorksten Welt.
Kollateralschäden für Kind und Gesellschaft
Kontrollierte Kinder kennen kein Dürfen, überbehütete Kinder kennen kein Können, verwöhnte Kinder kennen kein Müssen und kein Sollen. «Es ist eben bequem, unmündig zu sein», hat schon Immanuel Kant festgestellt. Zu den sichersten Methoden, Kinder unmündig und lebensuntüchtig zu machen, zählen neben der Kontrolle und dem Förderwahn tatsächlich Verwöhnung, Verschonung und Überbehütung.
Der weiteren Biographie der Kinder ist das absolut nicht förderlich. Selbst wenn es plakativ klingt, trifft es zu, was Albert Wunsch rhetorisch fragend in seinem Band «Die Verwöhnungsfalle» schreibt: «Kennt ihr das sicherste Mittel, euer Kind unglücklich zu machen? Gewöhnt es daran, alles zu bekommen!»
Je aktiver die Eltern, desto passiver die Kinder! Das heißt, so manche Kinder werden erdrückt von zu viel elterlicher Liebe und Fürsorge. Aus der Verhaltensforschung und der Zoologie kommt dazu der Begriff der Affenliebe. Dieser Ausdruck geht bis in die Antike zurück: Schon Plinius erzählt, dass Affenmütter ihre Kinder manchmal aus lauter Liebesgetue zu Tode drücken. Und noch im frühen «Brehms Tierleben» kann man lesen, dass beim Tode ihres Kindes manche Affenmutter aus Kummer zugrunde gehe. «Affenliebe» meint auf uns Menschen bezogen die Zerstörung des Kindes aus egoistischem Besitzanspruch der Mutter, weniger tragisch sprechen Verhaltensforscher von einem emotionalen Wärmetod.
Indoktrinierte miese Laune
Dass Verwöhnung – gepaart mit Indoktrination – bei jungen Leuten miese Laune macht, hat im April 2013 der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder belegt. Diesem Bericht zufolge stehen Deutschlands Kinder unter den Kindern aus insgesamt 29 untersuchten Ländern in puncto Lebensumstände auf Platz 6, bei der Lebenszufriedenheit auf Platz 22 – hinter Spanien, Estland, Slowenien, Italien, Portugal usw. Wir haben in Deutschland also offenbar ein Luxusproblem. Je besser die Lebensumstände sind, desto mehr wird auf hohem Niveau gejammert. Schuld daran ist unter anderem eine schulpolitische und schulpädagogische Debatte, die den Kindern Stressgefühle indoktriniert. Schulstress in Deutschland ist aber zu erheblichen Teilen gefühlter Stress. Die Schülerschaft vieler anderer Länder der Welt wird in weitaus größerem Maße in Anspruch genommen. Mitverantwortlich für die Unzufriedenheit junger Menschen mit ihrer Lage sind dabei Organisationen, die Eltern und Schülern einreden, sie hätten nur mit Abitur und Studium Zukunft. Dabei zeichnet sich Deutschland durch eine der weltweit niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen aus. Das sollte eigentlich Grund zu mehr Zufriedenheit sein.
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