Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
missionieren. Die eine Konfession ist die der PISA-Gläubigen. Zwar kann man mit PISA alles, also nichts erklären. Trotzdem feiern die Hohepriester der Gesamt-, Gemeinschafts- und Einheitsschulbewegung mit ihrer reichlich eigenwilligen PISA-Exegese fröhlich Auferstehung. Ihr apokalyptisches Hosianna lautet: Mit dem deutschen PISA-Ergebnis sei der Jüngste Tag für das gegliederte, begabungs- und leistungsorientierte Schulwesen angebrochen. Die Heilsversprechen sind entsprechend: Qualitätssteigerung, dem Kind gerecht zu werden, soziale Gerechtigkeit und so weiter.
Die andere Konfession ist die «Bologna»-Konfession. Mit «Bologna» kann man ja ebenfalls alles und damit nichts begründen. Aber an frohen Botschaften fehlt es auch hier nicht: «Bologna» samt Bachelor, Master, Workloads und Credit Points schaffe Effizienz, Straffung, Mobilität, Modularisierung, Kompatibilität, Praxistauglichkeit und eine Steigerung der Akademikerquote.
Das ist viel Diesseits- und Sozialreligion auf einmal. Große Teile der bildungspolitischen Debatte in diesem unserem Lande haben tatsächlich etwas Sakrales und Kultisches an sich. Wie bei einer Litanei beten PISA- und Bologna-Vorbeter mit einer Art klerikalen Anspruchs Beschwörungsformeln vor. Vorausgeschickt werden dabei gerne apokalyptische Bilder von einer verderbten Wirklichkeit, die es zu transzendieren gelte. Für Norbert Bolz («Das Wissen der Religion», 2008) ist jedes Heilsversprechen ohnehin zugleich Elendspropaganda.
Da und dort blitzt der sakrale Anspruch sogar unverstellt auf. Immer wieder ist etwa von sogenannten Reformschulen als «Kathedralen der Bildung» die Rede. Im Grunde steckt hinter vielen Debatten um Erziehung und Bildung tatsächlich eine «Religion», nämlich die eines radikalen Egalitarismus und einer «heiligen» Gleichheit (Robespierre). Manche Jakobiner hatten in ihrem Gleichheitseifer übrigens vor, die Kirchtürme zu schleifen, weil diese ungleich seien. Entsprechende Attitüden kommen heute nicht mehr mit der Guillotine, sondern mit bildungspolitischen Evangelien («frohen Botschaften»). Und klar ist auch: Wo es Religionen gibt, da gibt es Glaubenskriege.
Religion entsteht bekanntermaßen dann, wenn der Mensch an die Grenzen seines Machens stößt oder meint, mit Ritualen etwas in die gewünschte Richtung lenken zu können. Das sind gemäß Sigmund Freud (1972, 1973) auch die Funktionen von Religionen: Sie sollen – außer dass Religionsgründer damit recht schön Vorschriften, Verbote und Gebote erlassen können – helfen, Ängste oder Schuldgefühle zu bewältigen, im Unglück Trost spenden, vom Gefühl der Ohnmacht befreien. Weil Menschen aber zu allen Zeiten von solchen Gefühlen geprägt waren, bleibt die Summe aller Glaubenssätze – in welchem Gewande auch immer – wohl über alle Zeiten hin gleich.
Weniger tiefenpsychologisch ergründet, könnte man mit Eduard Spranger festhalten: Religion und Glaube entstehen aus der Beunruhigung und der Unzufriedenheit über die Unzulänglichkeit des Lebens und der Welt. Dies kommt umso mehr zum Tragen, je komplexer die Welt ist. Je undurchdringlicher die Lebensumstände werden, desto mehr suchen die Menschen nach einfachen Wenn-dann-Beziehungen. Kontingenz aber, das Unwägbare, verwirrt. Dogmen dagegen schützen vor einem endlosen Kreisen in unbeantwortbaren Fragen, so Norbert Bolz (2008). «Zugleich», so Bolz weiter, «bedeutet jede Sakralisierung, dass ein Sachverhalt unbefragbar wird und einfach an ihn zu glauben ist.»
Helmuth Schelsky (1975) nennt die Sehnsucht nach Einfachheit eine «Reprimitivisierung des Erkenntnisvermögens» und «ein sicheres Zeichen des Entstehens einer neuen Religiosität». Im Kern – so ebenfalls Schelsky – läuft jede Ersatzreligion auf eine «Heilsvergottung der Gesellschaft als Basis für einen dereinst vollkommenen sozialen und individuellen Zustand» hinaus. Einmal mehr ist nicht der Einzelne für sich verantwortlich, sondern die Gesellschaft ist es – für alles und für jeden Einzelnen. Das Bildungswesen hat dafür geradezustehen.
Der sakrale Anstrich kommt immer mehr in der elterlichen und schulischen Erziehung zur Geltung. Wenn es früher mit den Kindern nicht klappen wollte, dann schickten Eltern, Großeltern, Lehrer und Pfarrer ein Stoßgebet gen Himmel. «Jetzt hilft nur noch beten», hieß es dann. Heute sind es pädagogische Stoßgebete, die abgesetzt werden: «Jetzt helfen nur noch Förderkurse, Beschwerden, Schulreformen …» Für den
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