Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Allensbach-Generationenbarometer geben 43 Prozent der 16- bis 29-Jährigen an, dass sie als Kind vieles selbst entscheiden durften, bei den 60-Jährigen und Älteren waren es nur 15 Prozent. Dem aber nicht genug: Viele Eltern lassen Kinder mitentscheiden oder allein entscheiden, wenn es eigentlich um die Entscheidung von Erwachsenen geht. Laut einer Studie der Universität Wien von 2009 bestimmen Kinder das Konsumverhalten ihrer Mütter maßgeblich mit. «Was möchtest du essen?» Am Ende heißt es: «Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Aber was auf den Tisch kommt, bestimmen die Kids!» Kinder entscheiden nicht selten, welches Müsli, welcher Joghurt, welche Tiefkühlkost, womöglich welches Auto gekauft wird. Die Marketingstrategen wissen das. Bei ihnen heißen die Kinder «Markendurchsetzer».
Kinder auf der Augenhöhe von Eltern, und das womöglich schon sehr früh? Babys, so liest man aus der neueren Säuglingsforschung, seien «geborene Experten», Experten ihres eigenen Verhaltens, und sie wüssten selbst, was für sie das Beste sei.
Von einer Egalisierung von Eltern und Kind zeugt auch der Jugendwahn eines Teils der aktuellen Elterngeneration. Eltern scheint es ein Bedürfnis zu sein, sich auf das Styling ihrer Kinder einzustellen, wahrscheinlich um als ihre Freunde gelten zu können. Das Outfit von Kindern und Erwachsenen wird dann immer einheitlicher. Mutter und Tochter flanieren in den gleichen Designerschuhen und -jeans durch die City. Vater und Sohn raufen sich, wer die neue Rock-CD als Erster hören darf. Zugleich macht es Eltern Spaß, die Kleinen in die Miniaturausführung von Erwachsenenkleidern zu stecken und das Kind solchermaßen als Miniaturausgabe von sich selbst zu präsentieren. Umgekehrt fangen Erwachsene an, Kleider zu tragen, die, historisch gesehen, der Jugend vorbehalten waren.
All dies wurde mitbeeinflusst von den 1968ern, die die Elternrolle verweigerten und darauf bestanden, großer Bruder, große Schwester, bester Freund ihrer Kinder zu sein. Es ist dies ein Stück elterlicher Infantilismus. Johan Huizinga (1872–1945) spricht von einem kollektiven «Puerilismus». In einer fortschreitend infantilisierten Welt ist es damit schier unmöglich, erwachsen zu werden, es regredieren nämlich die Eltern. Michael Winterhoff (2010) meint zu Recht: «Kinder müssen Kinder sein dürfen, Erwachsene müssen Erwachsene sein wollen.»
Egalisierung und Infantilisierung sind auch im politischen und gesellschaftlichen Bereich im Gang. Im Jahr 2007 brachte das Bundesministerium der Justiz die Broschüre «Meine Erziehung – da rede ich mit! Ein Ratgeber für Jugendliche» heraus. Adressaten sind 10- bis 17-jährige Heranwachsende. Im Vorwort der damaligen Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) ist zu lesen, dass sie für eine «partnerschaftliche Erziehung» plädiert. Eltern werden sozusagen in ihre Schranken gewiesen. Oder nehmen wir die Kinderparlamente, die Wahl von Kinderbischöfen usw. Wann gibt es den ersten Kinderpapst? Alles im Grund Beispiele von Egalisierung und Infantilisierung. Oder nehmen wir die Diskussion um das Wahlalter: Begann im deutschen Kaiserreich die Wahlmündigkeit noch mit 25, in der Weimarer Republik mit 20, in der Bundesrepublik bis zum Jahr 1974 mit 21 Jahren, so ist sie seitdem – wie fast überall in der Welt – auf die Vollendung des 18. Lebensjahres festgesetzt.
Bestimmte Jugendforscher freilich meinen, dass Kinder schon mit 12 oder 14 Jahren wahlmündig seien. Während die tatsächliche Jugendphase immer mehr verlängert wird und junge Menschen immer später selbständig werden, während im Jugendstrafrecht immer mehr Nachsicht wegen «Unreife» geübt wird, glaubt man, mit Jungwählern im Kindes- und Jugendalter auf Stimmenfang gehen zu können. Dahinter steckt ein Populismus, der als Jugendfreundlichkeit verkauft wird. Wer allerdings den Wahlakt infantilisiert, der degradiert ihn zum Kinderspiel. Wählen zu dürfen kann keine erzieherische Maßnahme der politischen Bildung sein. Das Wahlrecht soll nicht zur Reife hinführen, sondern das Wahlrecht setzt diese voraus.
Erziehung und Bildung als Ersatzreligion
Erzieher in Familie und Schule sollten in ihrem Reflektieren und Handeln einmal innehalten und sich selbstkritisch die Frage stellen, ob Erziehung und Bildung nicht mehr und mehr zu etwas Quasi- und Parareligiösem geworden sind. In Deutschlands Bildungspolitik scheinen nämlich seit einiger Zeit zwei große Glaubensgemeinschaften zu
Weitere Kostenlose Bücher