Helix
mit Millionen Einwohnern, ein einfacher Strauch alle Wälder.
In diesen Gärten und, wie ich glaube, in zunehmendem Maße auch in meinen fiktiven Werken wirkt als steuerndes Element das fukinsei – die Ansicht, dass jenes Prinzip, welches das Gleichgewicht einer Komposition bestimmt, stets asymmetrisch sein sollte. Ein wenig bekannter Aspekt der Ästhetik scheint der zu sein, dass alle Menschen, ob sie es nun wissen oder nicht, bei Blumengebinden, bei der Zusammenstellung von Fliesen für eine Wohnung, in der Architektur, in der Kunst und in der Fiktion entweder Symmetrie oder Asymmetrie bevorzugen. Menschen aus westlichen Kulturen neigen zur Symmetrie, die manchmal sogar sehr rigide sein kann; die Elemente eines japanischen Gartens sind, der fernöstlichen Ästhetik entsprechend, eher asymmetrisch angeordnet. Auch ich glaube, dass das Leben nicht ganz so symmetrisch ist, wie wir es gerne hätten.
Nachdem ich fast zwei Jahrzehnte lang in diesem Beruf tätig bin, stelle ich fest, dass meine Arbeiten nun wieder Themen wie Liebe und Verlust aufgreifen, während die handwerkliche Seite mehr und mehr zu einer Suche nach kanso (Einfachheit) gerät. Der Bruder koko, der freilich kein Zwillingsbruder ist, lässt mich nach Strenge und Reife streben. So kehre ich zum Wesentlichen zurück und ehre, was ehrenswert ist. Was den Stil angeht, lese ich zwar gern Michael Oondatje oder lyrische Prosa nach Art von Nabokov, doch würde ich für mich, wie der Gärtner in Nara, eher shizen wählen – die Natürlichkeit, die durch bewussten Verzicht auf jede Verstellung entsteht. Manchmal kann man diese Schlichtheit erreichen, wenn man seijaku findet – man entscheidet sich für das Schweigen statt für den Lärm, für die Ruhe anstelle von Aufregung.
Manchmal aber auch nicht.
Shibui, wabi und sabi sind komplexe Ideen, die ich als Ziele weder in mein Leben noch in meine Erzählungen zu übertragen vermochte. Andererseits kann ich mich ihnen aber auch nicht völlig verschließen, und so tauchen sie häufig als eine Art von Besessenheit in meinen Werken auf. Wabi dreht sich um die dem Zen gemäße Einsicht, dass zusammen mit der Blüte auch das Vergessen einsetzt. Der Zen-Garten Ryoanzi wird dreimal täglich geharkt, um die von den Bäumen fallenden Blütenblätter vom Boden zu entfernen, doch die Vollkommenheit des mit Stein und Kies gestalteten Gartens findet sich gerade in jenen lästigen Blättern, gerade in jenen willkürlichen, aber unausweichlichen Begegnungen mit der sterbenden Schönheit, die mit der Harke beseitigt wird. Es erinnert uns daran, dass uns etwas Unersetzliches geraubt wird, noch während wir das Leben und die Schönheit preisen. Sabi ist die Entdeckung der Schönheit in der Patina der Zeit, in den Flechten auf dem Stein, im verwitterten umgestürzten Baum, und gemahnt uns daran, dass die Zeit milde mit den Dingen, aber unermesslich grausam mit uns Menschen umgeht. In unserer Lebensspanne mögen wir viele Welten sehen, doch wir haben nicht genügend Raum, um sie auch alle zu erleben. Zeit ist das einzige Geschenk, das uns alles nimmt – uns jeden Menschen raubt, den wir lieben –, wenn wir es im Übermaß bekommen. Die Erkenntnis, ja vielleicht sogar die Würdigung des sabi – jenes ersten Anflugs von Vergessen, der schon kommt, wenn wir noch die Menschen und Dinge festhalten, die wir lieben – ist ein wichtiger Aspekt in mehreren Geschichten dieser Sammlung.
Manch einer von uns ist womöglich auch auf das Wort shibui gestoßen, auf diesen fast unübersetzbaren Begriff, der einerseits den guten Geschmack meint, andererseits und im wörtlichen Sinne aber auch die bittere Schärfe bezeichnet, die man schmeckt, wenn man in eine unreife Dattelpflaume beißt. Dies entspricht meiner eigenen Erfahrung mit der Natur – ich preise ihre Schönheit und Vielfalt und versuche, dem Drang zu widerstehen, allzu sentimental zu werden. Meiner Ansicht nach leben wir in einem Zeitalter, das nicht nur von überzogener Sentimentalität, sondern auch von einer infantilen Unreife geprägt ist. Wir wollen nicht anerkennen, dass es Dinge gibt, die ihrem Wesen nach weder süß noch wohltuend sind, oder dass es hier und da auch mal einen sauren Geschmack geben darf, der die Reinheit des Kerns umso süßer erscheinen lässt. Meine mädchenhafte Prophetin Kelly Dahl versucht, ihrem früheren Lehrer diese Schärfe zu vermitteln, und es ist vielleicht auch ein Teil der nicht ausformulierten Botschaft, die von Kanakaredes und seinen
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