Helix
nur, weil die Gene ihrer Vorfahren es so wollten. Nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch aus mancherlei anderen Gründen wirkte dieser riesige, an den Weltraum angepasste Ouster nicht sonderlich menschenähnlich. Die Gliedmaßen waren kaum mehr als lange Spinnenbeine, die am schmalen Rumpf befestigt waren. Die Finger des Mannes waren gut und gern zwanzig Zentimeter lang, und jeder Quadratzentimeter seines Körpers – der unter dem eng anliegenden, Schweiß absorbierenden Schutzanzug beinahe nackt wirkte – war von einem körpereigenen Kraftfeld bedeckt, das im Grunde eine Verstärkung der natürlichen menschlichen Aura darstellte. Auf diese Weise konnte er auch im tiefsten Vakuum überleben. Die Höcker auf und an seinen Schultern waren die Sender, mit denen er seine Kraftfeld-Flügel ausbreiten konnte, um den Sonnenwind und die Magnetfelder einzufangen. Auch sein Gesicht war genetisch verändert worden und erinnerte kaum noch an ein menschliches Antlitz. Die Augen waren schwarze Schlitze hinter riesigen Nickhäuten, er hatte keine Ohren, sondern Gitter an den Seiten des Kopfes, hinter denen Empfänger saßen, und der Mund war ein schmaler Spalt ohne sichtbare Lippen. Die Kommunikation erfolgte über Sendedrüsen im Hals.
Die Delegation der Spectrum Helix hatte diese Ouster-Anpassungen natürlich bemerkt und sich mit unauffälligen Ohrhörern ausgerüstet, die nicht nur Far Riders Sendesignale auffangen konnten, sondern außerdem auch noch die Kommunikation mit den KIs auf einem gesicherten Frequenzband erlaubten.
Der zweite Ouster war nur teilweise an den Weltraum angepasst, und die Ähnlichkeit mit einem Menschen war etwas stärker. Er war drei Meter groß und dürr und spinnengliedrig, doch das dauerhafte ektoplasmische Kraftfeld fehlte ihm. Seine Augen und das Gesicht waren schmal, aber stark ausgeprägt, und er hatte kein Haar. Er sprach das frühe Netz-Englisch nahezu akzentfrei. Er hieß Keel Redt und wurde als Zweigmeister und Historiker vorgestellt. Offensichtlich war er der Sprecher der Gruppe, vielleicht sogar ihr Anführer.
Links neben dem Zweigmeister saß eine Tempelritterin, eine junge Frau mit dem unbehaarten Schädel, dem zierlichen Knochenbau, den leicht asiatischen Zügen und den großen Augen, die allen Tempelrittern gemein waren. Sie trug die traditionelle braune Robe und die Haube und stellte sich als Wahre Stimme des Baumes Reta Kasteen vor. Ihre Stimme war weich und auf eine eigenartige Weise melodisch.
Nachdem die Spectrum-Helix-Delegation sich vorgestellt hatte, bemerkte Dem Lia, dass die Ousters und die Tempelritterin Ces Ambre einige Sekunden lang anstarrten. Die alte Frau lächelte liebenswürdig.
»Wie konnten Sie mit so einem Schiff so weit fliegen?«, fragte der Zweigmeister Keel Redt.
Dem Lia erklärte, warum sie beschlossen hatten, weit entfernt vom Raum der Aeneaner und der Menschen eine neue Kolonie der Amoiete Spectrum Helix zu gründen. Darauf folgte die unvermeidliche Frage nach den Ursprüngen der Amoiete-Spectrum-Helix-Kultur, und Dem Lia erzählte die Geschichte so knapp wie möglich.
»Wenn ich Sie also recht verstehe«, sagte die Wahre Stimme des Baumes Reta Kasteen, »dann beruht Ihre ganze Gesellschaftsordnung auf einer Oper, einem Werk also, das der Unterhaltung diente und das vor mehr als sechshundert Standardjahren nur ein einziges Mal aufgeführt wurde?«
»Nicht unsere gesamte Gesellschaftsstruktur beruht darauf«, antwortete Den Soa der Tempelritterin. »Kulturen wachsen natürlich und passen sich an veränderte Bedingungen und Erfordernisse an. Aber die wichtigsten philosophischen Grundlagen und die Strukturen unserer Kultur waren tatsächlich in jener einzigen Vorstellung des Philosophen, Komponisten und holistischen Künstlers Halpul Amoiete enthalten.«
»Und was hat dieser … dieser Dichter dazu gesagt, dass eine Gesellschaft auf der Grundlage seiner Multimedia-Oper errichtet wurde?«, fragte der Zweigmeister.
Es war eine heikle Frage, doch Dem Lia lächelte nur. »Wir werden es nie erfahren. Bürger Amoiete ist nur einen Monat nach der Premiere seiner Oper beim Bergsteigen ums Leben gekommen. Die ersten Gemeinschaften der Spectrum Helix sind erst zwanzig Standardjahre später entstanden.«
»Verehren Sie diesen Mann?«, fragte der Zweigmeister Keel Redt.
Diesmal antwortete Ces Ambre. »Nein. Kein Angehöriger der Spectrum Helix hat Halpul Amoiete je vergöttert, doch wir haben seinen Namen in den Namen unserer Gesellschaft übernommen.
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