Hell's Kitchen
nächster Zeit irgendwohin zu gehen.
Lionel der Holy Redeemer hatte die >Post< vor sich auf der Theke ausgebreitet, drückte mit den Ellbogen die Ecken runter, und vor ihm stand ein Glas Bier mit einer dünnen Schaumkrone. Er trug seinen dunklen Mantel, weil es im Flanders zog, in dem lediglich die Sperrholztür Schutz vor dem Wind bot. Ich bemerkte eine Ecke des schmutzigen weißen Stehkragens an Lionels Hals. Seine große Tasche, in der er Pfandflaschen und Dosen sammelte, lag flach und leer auf einem Barhocker neben ihm.
Die Musikbox spielte Leon Redbone; er sang »Mamas Got a Baby Named Ti-Na-Na«. Ein junger Mann, der seine Haare mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, den Kopf auf die auf der Theke verschränkten Arme gelegt, klopfte den Rhythmus mit einem Fuß mit. Eine schlanke Nutte mit einem pockennarbigen Gesicht stand vorn an der Theke, trank etwas aus einem Glas, das, wie ich vermutete, wahrscheinlich das einzige Champagnerglas in dem Laden war. Sie sah mich fragend an, ich signalisierte nein, und sie zuckte mit den Achseln; nichts Persönliches. Die einzigen anderen Gäste waren drei alte Herren, zwei schwarz und einer weiß, die wahrscheinlich im angrenzenden Flanders Hotel lebten. Sie spielten an einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Lokales Domino.
Ich ging zu dem Barkeeper und schob ihm einen Zwanziger zu. Lionel drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um die Transaktion mitzubekommen. Er lächelte verschmitzt und strich sich mit einer blaugeäderten Hand durch seine gelblichweiße Mähne, drehte sich dann wieder fort und starrte in sein Bier.
Ich nahm den Barhocker neben ihm und legte zwei neue Dollarscheine auf die Theke. Lionels Lippen öffneten sich, und seine Augen zuckten zur Seite, um einen kurzen Blick auf das Geld zu werfen, doch mich sah er nicht an.
»Vielleicht hast du schon gehört, daß ich dich suche«, sagte ich.
»Ich hab’s gerade gesehen.«
Ich winkte den Barkeeper heran.
»Was kriegst du?« fragte ich Lionel.
»Ich bin schon eine ganze Weile hier«, sagte er, »und hab schon für das Bier hier zahlen müssen.«
Ich gab Lionel einen Zehner. »Das ist für das Bier, und von jetzt an geht’s auf Kosten der Stadt, okay? Außerdem hab ich noch eine Menge mehr für dich, solange wir das bißchen Zeit, das wir zusammen sind, in aller Freundschaft nützlich verbringen. Was sagst du dazu?«
Lionel nahm den Zehner, verstaute ihn irgendwo in den unergründlichen Tiefen seines Mantels und sagte: »Tja, ich hab schon immer gemeint: ein Bier ist Erfrischung, zwei sind eine Mahlzeit und drei eine Party.«
Ich schob die beiden Einer auf der Theke vor, genug für eine Party mit Bier. Dann legte ich noch einen Zehner dazu und sagte dem Barkeeper, er solle dafür sorgen, daß unsere Bier- und Whiskygläser nicht leer würden. Und bevor ich ihn weiter bedrängte, wartete ich darauf, daß Lionel seinen ersten Whisky kosten konnte.
»Was für eine Musik möchtest du denn bei unserer kleinen Party hören?« fragte ich ihn. Ich fischte ein paar Münzen aus meiner Tasche, als die Musikbox verstummte.
»Das bleibt ganz dir überlassen, Hock.«
Ich ging rüber und tippte ein weiteres Redbone-Stück ein, »My Blue Heaven«, außerdem noch »Scratch My Back« mit Coleman Hawkins am Saxophon und eine Fred-Astaire-Version von »Miss Otis Regrets«.
Und als ich zur Theke zurückkam, kippte Lionel gerade seinen zweiten Whisky. Was eine wunderbare Methode ist, den größten Teil des natürlichen Widerstandes zwischen einem Cop und einem Burschen wie dem Holy Redeemer schmelzen zu lassen, dem es am besten geht, wenn er seinen Mund hält, trotz der Tatsache, daß er manchmal für mich den Spitzel macht.
»Okay, vielleicht mache ich mit und betrinke mich heute nachmittag ein bißchen, Hock«, sagte er, »und dann wird jeder sagen, daß ich nichts dagegen machen konnte, wenn was über meine Lippen kommt, richtig? Also, was willst du eigentlich von mir?«
»Drei Dinge...«, begann ich.
Und ich legte drei weitere Zehner auf die Theke, die Lionel nehmen und verstauen konnte, was er dann auch machte - schnell und mit einem verstohlenen Blick zur Seite, um sich zu vergewissern, daß niemand ihn mit soviel Geld sah. Es ist riskant für jemanden, der auf der Straße lebt, mehr Geld als unbedingt nötig mit sich herumzuschleppen, um sich für einen Tag durchzuschlagen. Und jetzt hatte er auf einmal vierzig Dollar. Was wiederum bedeutete, wie wir beide wußten, daß es klug von ihm
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