Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
man einer Notwendigkeit gehorchen, auch wenn man deshalb vielleicht sein Mandat verliert.“ Jemand, der dieses Risiko nicht eingehen wolle, tauge nicht für die Demokratie.
Helmut Schmidt glaubt, diesen hohen Anspruch setzen zu können, weil er selbst eine Entscheidung, von der er überzeugt war, den NATO-Doppelbeschluss, durchgesetzt hat, obwohl er wusste: Die eigenen Leute tragen den Beschluss nicht mit. „Es hat mir sehr geschadet, ich wurde aus dem Amt gejagt!“ Helmut Schmidt verlangt von Politikerinnen und Politikern „Prinzipientreue“ – sie sollen das, was sie für sachlich geboten halten, umsetzen, auch auf die Gefahr hin, nicht wiedergewählt zu werden.
Die SPD solle sich von den anderen Parteien dadurch unterscheiden, dass sie die Wahrheit sagt. In einer Zeit, da bereits die demografische Zeitbombe ticke und die geburtenstarken Jahrgänge Rente und Alter näherrückten, sei Vorsorge zu tragen, etwa durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Der Staat müsse Leistungen, die er nicht mehr bezahlen kann, abbauen. Er müsse seine Bürgerinnen und Bürger wieder stärker in die Pflicht nehmen.
Leistungen des Staates kürzen, um den Staat als Sozialstaat finanzierbar zu halten; Bürgerinnen und Bürger zur Eigeninitiative auffordern; staatliche Leistungen nur für solche sozialen Zwecke verwenden, die diese Bezeichnung wirklich verdienen – so ungefähr lautet Helmut Schmidts Diktum für künftige sozialdemokratische Politik, ja für Politik überhaupt.
Helmut Schmidt verlangt von führenden Politikerinnen und Politikern konsequentes Handeln. Im Zweifel müssten sie ihre politische Karriere dem Wohl des Ganzen unterordnen. Selbstverständlich müssen sie keinen politischen Selbstmord verüben, aber sie dürfen, auch wenn dadurch ihre politische Mehrheit verloren geht, vom einmal für richtig erkannten Kurs nicht abweichen. „Ist es einem Kanzler zuzumuten, dass er sich entmachtet und seine Partei schwächt?“, fragte Roger de Weck HelmutSchmidt in einem Interview 2004, und Helmut Schmidt antwortete, „Nicht in jedem einzelnen Fall, aber prinzipiell muss ihm das sogar abverlangt werden.“
Helmut Schmidt nimmt sich das Recht, von Politikerinnen und Politikern zu verlangen, dass sie das Gemeinwohl über ihren persönlichen politischen Erfolg stellen, weil er selbst diese Entscheidung getroffen hat. Er hätte, als sich die anfängliche Zustimmung seiner Partei zum NATO-Doppelbeschluss in Ablehnung verkehrte, einen Rückzieher machen können – hätte behaupten können, die Amerikaner hätten mit den Russen nicht ernsthaft verhandelt. Die FDP hätte zwar trotzdem die sozialliberale Koalition verlassen, doch wäre es einem Kanzlerkandidaten Helmut Schmidt bei den Neuwahlen 1983 vielleicht gelungen, einen Teil der sogenannten Friedensbewegung an die SPD zu binden. Und die FDP hätte die Fünfprozenthürde gerissen, die sie ohnehin nur knapp übersprungen hat.
Weil Helmut Schmidt aber am NATO-Doppelbeschluss festhielt und zugleich – weil der große Koalitionspartner SPD von diesem Beschluss wieder „ausbüchste“ – seinen Koalitionspartner FDP verlor, erlebte er die schmachvollste Niederlage, die ein Politiker im parlamentarischen Raum erleben kann. Am 1. Oktober 1982, beim Misstrauensvotum gegen ihn, stand er ohne politische Mehrheit seiner Regierung und ohne politische Mehrheit in seiner Fraktion (und ein Jahr später auch ohne Mehrheit auf einem SPD-Parteitag) da.
Helmut Schmidt fordert von den Politikerinnen und Politikern der Gegenwart und Zukunft ein Maß an Beharrlichkeit, das das Gros von ihnen nicht aufbringt. Schmidts Rezept ist eigentlich ein Rezept für politische Ausnahmesituationen. Er ist ein Freund von „Blut, Schweiß und Tränen“-Reden, wie sie Winston Churchill während des Zweiten Weltkriegs an sein Volk gerichtet hat. Helmut Schmidt hat von Helmut Kohl eine solche Rede zur deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 gefordert, um auf die wirtschaftlichen Folgen dieser Vereinigung einzustimmen. Diese Rede blieb aus. Lobend erwähnt Helmut Schmidt die „Ruck“-Rede von Bundespräsident Roman Herzog 1997 und die aktivePhase von Horst Köhlers Bundespräsidentschaft 2005. Die „Agenda 2010“-Rede von Gerhard Schröder hatte den Charakter von Churchills Tränen-Rede, doch sie kam zu spät und griff zu kurz. Außerdem, so Schmidts Überzeugung, enthielt die Agenda handwerkliche Fehler und wurde der Bevölkerung schlecht vermittelt. So dürfe man es eben auch nicht
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