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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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und gelb war mein Körper geprügelt. Wenn mich jemand auf die Wunden ansprach, zuckte ich mit den Schultern und sagte, »Ein richtiger Junge hat eben Narben.«
    Meine Mutter und Schwester zogen das Kind, das im März zur Welt kam, gemeinsam auf. Ein Flüchtling aus dem anderen Deutschland hatte meine Schwester ausgenutzt, erzählten sie den Nachbarn, wenn sie den Jungen in seinem Kinderwagen durchs Dorf schoben. Sie schärften mir ein, mein dreckiges Maul zu halten. Und so wiederholte ich, was sie mir eingebleut hatten: Ein Flüchtling aus dem Osten war es gewesen.

MARTIN
    Nach Neujahr froren die Kanäle zu, die das Torfmoor durchkreuzten, und jeden Tag nach Schulschluss jagten wir einander über das Eis. Ich hatte das rostrote Haar meines Vaters geerbt und verbarg es unter schwarzen Wollmützen, die ich mir tief in die Stirn zog. Aber ich konnte nichts gegen die Sommersprossen machen, die sich auch im kältesten Winter noch auf meinem Gesicht ausbreiteten. Ich war dreizehn und fühlte mich abwechselnd abschreckend hässlich und unsichtbar.
    Sobald das Eis trug, warteten Verliebte auf die Nacht, um auf Schlittschuhen zu entlegenen Stellen des Moores zu gleiten. Unsere Großeltern erzählten immer noch von dem Winter, als Julian Fitschen und Anna Jensen durchs Eis schmolzen, weil sie ihre Gefühle nicht zügeln konnten. Die Liebhaber waren in ihrer Umarmung erstarrt aus der Droste geborgen und wie eine heidnische Statue ins Dorf getragen worden, wo sie bis zum Frühling hinter Fitschens Hof standen.
    Manchmal gingen meine Freunde Alex, Holger, Bernhard, Christian und ich zur Droste, dort wo sie träger dahinfloss und sich vor dem Damm zu einem Teich ausweitete. Wir hackten das Eis auf und hielten unsere Schnüre ins Wasser. Aber wir waren nie geduldig genug und fingen nur selten einen Fisch.
    Auf einem unserer Ausflüge begleitete uns Broder, der jüngste Sohn der Hoffmanns, und trug eine Axt, die fast so lang wie er selbst war. Es war nun viele Jahre her, dass ich mit seiner Schwester und Linde Janeke im Garten und in der Stube gespielt und den Mädchen das Haar geflochten hatte. Oft hatten wir Jungen sie mit Abscheu und Belustigung betrachtet, hatten sie an den Zöpfen gezogen und sie nach der Schule gehänselt und geschubst. Mittlerweile sahen wir sie aber mit anderen Augen an. Im letzten Jahr hatte sich Alex unsterblich in Anke Hoffmann verliebt, und er hatte sie viele Male angefleht, dass sie ihre Bluse für ihn aufknöpfen möchte. Aber sie hatte sich immer wieder geweigert. Alex hatte es den ganzen Herbst lang versucht und hatte Broder als Boten seiner verzweifelten Liebesbriefe verpflichtet. Er betete mittlerweile ein neues Mädchen an, aber Broder folgte ihm noch immer, wie sehr sich Alex auch bemühte, den Jungen loszuwerden.
    »Ich werde euch Glück bringen«, krähte Broder glücklich. Vor Weihnachten war er als einer der Sternsinger mit einer Goldkrone aus Pappe und einer klaren, hellen Stimme durchs Dorf gezogen.
    Wir anderen lachten. Unsere eigenen Stimmen spielten verrückt; wir zogen es vor zu schweigen. Wir waren alt genug, uns aus Hemmersmoor fortzuwünschen, aber zu jung, um Mopeds zu kaufen und nach Groß Ostensen ins Kino oder in die Eisdiele zu gehen. Wenn die Leute in der Stadt über uns sprachen, benutzten sie oft das Wort Inzest. Wir schauten uns ihre Welt und ihre Mädchen an, und sie würdigten uns keines Blickes.
    Als wir zur Droste kamen, schnallten wir unsere Schlittschuhe an und liefen auf die Mitte des Teiches zu, wo das Eis mit Ächzen und Geräuschen, die wie Peitschenhiebe klangen, auf unser Gewicht antwortete. Es war drei Uhr nachmittags, und kleine Gruppen von Kindern liefen oder schlitterten über das Eis. Die Sonne war von den Wolken verdeckt, und das Licht verblasste schon. Schnee fiel und kitzelte unsere Gesichter.
    »Was passiert, wenn das Eis bricht?«, fragte Broder.
    »Dann werden wir ersaufen«, sagte ich.
    »Warum das, Martin?«, fragte er. »Ich kann schwimmen.«
    »Deine Schlittschuhe«, sagte ich. »Sie sind zu schwer. Deine Klamotten werden dich nach unten ziehen.«
    Alex nahm eine Packung Zigaretten aus der Manteltasche und reichte sie herum. Sein Vater gab ihm Geld für die Arbeit, die er im Krug verrichtete; wir anderen konnten uns keine Zigaretten leisten. Wir fuhren träge auf dem Eis umher, rauchten dabei und hielten nach einem guten Platz zum Angeln Ausschau. Schon bald machte der dichter fallende Schnee Ufer und spielende Kinder unsichtbar und dämpfte das

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