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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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Brief aufgetragen hatten, ließ sie sich im Schatten der Mauern unter uns nieder. Sie murmelte vor sich hin, und obwohl es bereits zu dunkel war, um genau zu erkennen, was sie trug, konnten wir ihr Parfüm riechen. Wie Lemuren hingen wir über ihr und beobachteten die dunkle Gestalt durch die Ritzen im Gebälk. Sie war eine Seherin, aber die Liebe hatte ihr Werk verrichtet und sie geblendet. Oder vielleicht vermochte sie nur Geister zu sehen, und wir waren zu jung und unsere Herzen schlugen zu wild, als dass sie uns hätte ausmachen können.
    Nach fünfzehn Minuten sahen wir den Apotheker über das Moor auf die Kirche zukommen, sein Schatten schwärzer als die Nacht. Seine Schuhe kratzten schon bald über den Steinboden und steuerten auf die Ecke zu, in der Käthe auf ihren Freier wartete.
    Einige Sekunden lang konnte ich nichts mehr hören, und selbst wenn sich die Gestalten dort unten bewegt hätten, war ich nicht sicher, dass ich sie hätte hören können, zu laut pochte das Blut in meinen Ohren. Es ist zu finster, dachte ich. Es ist zu finster, ich werde meine Rache versäumen. Ich erhob mich und war bereit, meinen Ausguck zu verlassen.
    Da hörten wir die Stimme des Apothekers. »Bist du es wirklich?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete Käthe blöde.
    Vielleicht wusste der Apotheker sofort, dass er nicht Heidrun Brodersen vor sich hatte, doch er hielt still. Wir konnten kein Risiko eingehen. Ich gab das Zeichen.
    Eine Fackel flammte in Ankes Hand auf, und sie ließ sie in den Raum unter uns fallen, wo trockene Zweige und Stroh, das wir gestern noch aufgehäuft hatten, zu brennen anfingen.
    »Nein«, schrie Käthe und hielt den Apotheker fest, der sich aus ihrem Griff zu befreien suchte. »Ich bin doch hier. Ich bin doch bei dir.«
    Das Feuer fraß seinen Weg auf das Paar zu, und im flackernden Licht erschienen die Gesichter von uns Mädchen über ihren Köpfen. »Turteltauben fliegt! Spreizt eure Flügel!«, heulten wir. Wir rannten auf den Mauerresten entlang und klopften mit Bratpfannen auf den Stein.
    Schließlich stieß Penck die weinende Frau von sich und rannte davon. »Lauf zu deiner Frau«, schrien wir und lachten den flüchtenden Apotheker aus.
    Käthe taumelte hinter ihm her und schrie noch lauter als wir Mädchen. Sie trug ein grünes Kleid, einen Ärmel hatte sie im Kampf mit Penck verloren. Sie drehte sich wie ein Kreisel und konnte uns doch nicht sehen. Das Jenseits spukte um sie herum, aber unsere beschmierten und verzerrten Gesichter vermochte sie nicht zu lesen.
    »Käthe«, heulten wir, »Käthe, renn deinem Geliebten nach. Renn wie der Wind, sonst wird er entkommen.« Wir wussten uns in Sicherheit. »Käthe, fang dir einen Kuss.« Wir sprangen von den Mauern und rannten ihr nach, bis wir das erste Haus unseres Dorfes erreichten.
    *
    Käthe ließ sich eine Woche nicht blicken, und als wir sie wieder auf der Straße sahen, sprangen Worte wie Frösche aus ihrem Mund und hüpften in jedwede Richtung davon. Niemand konnte sie mehr verstehen, niemand konnte ihre Geschichten deuten.
    Doch ich war nicht zufrieden.
    Ich hatte mir meine Rache so lange ausgemalt, und ich hatte Penck nicht genug leiden sehen. Ich hatte ihn bei alledem kaum zu Gesicht bekommen.
    Eine Woche lang wartete ich auf eine Eingebung, einen Plan. Jeden Tag erschien mir unser Streich kindischer, und ich schämte mich, wenn ich an unsere geschwärzten Gesichter und das alberne Gekreisch dachte, und daran, wie erhaben es sich auf den Mauern der Kirche angefühlt hatte, als die Mädchen in der Dunkelheit darauf gewartet hatten, dass ich das Zeichen gab.
    Nach einer weiteren Woche wusste ich, was zu tun war. Bevor ich das Haus am Nachmittag verließ, spürte ich die Hand meines Vaters auf der Schulter. Er war von der Arbeit zurück, der Lastwagen stand vor dem Haus. Zwei Wochen nachdem er wegen des wahren Erben gefeuert worden war, hatten ihn die von Kamphoffs wieder eingestellt. Zu welchen Bedingungen, wollte mein Vater nicht sagen.
    Er drehte mich zu sich und zeichnete meine Narben mit einem seiner dicken, rauen Fingern nach. »Sie sind rot«, sagte er. »Warum bist du so aufgeregt?«
    »Das geht dich nichts an«, gab ich zur Antwort.
    Sein Finger fuhr mir weiter über das Gesicht – eine Spinne, die ihr Netz absuchte. »Wenn ich es nur ungeschehen machen könnte.«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Es ist alles vergeben.«
    Auf dem Dorfplatz hatten sich Leute versammelt. Ihre Stimmen schraubten sich in die Höhe, ihre Mäuler

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