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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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fantastischen Kleidern aus Katalogen, die Frau Hoffmann ins Haus geliefert bekam. Wir träumten von Hochzeiten mit Brokatkleidern und langen Schleppen, von Millionären in Sportautos, die nur einen einzigen Blick auf uns werfen und uns dann in die weite Welt entführen würden.
    Anke hatte ein extra dickes Schulheft mit einem Umschlag aus festem Karton zu ihrem Hochzeitsbuch gemacht. Es enthielt nicht nur ein Foto ihres Brautkleides, sondern auch Bilder von Hochzeitstorten, Silbergeschirr und Tischdecken. Sie hatte alles bis ins Kleinste geplant, und wir hänselten sie, weil sie die Köpfe der Männer, die in Anzügen steckten, abgeschnitten und ihnen neue gezeichnet hatte.
    »Sieht wie Rutger von Kamphoff aus«, sagte ich.
    »Der ist hinter Anna her«, sagte Sylvia. Sie war die Größte von uns und die Erste, die Brüste bekommen hatte. Sie hatte schon viele Jungen geküsst, während mich keiner mehr anschaute. Weder Johann noch Torsten hatten mich je wieder gefragt, ob ich mit ihnen hinter die Schule oder hinunter zum Fluss gehen wolle.
    »Das kann nicht sein«, entgegnete Anke aufgebracht.
    »Kann doch sein,« sagte Sylvia.
    »Die wird er nie heiraten. Nie im Leben.«
    »Als ob du eine Chance hättest.«
    Anke klappte ihr Buch zu und schmollte.
    Wenn unsere Träume zu stickig wurden, liefen wir zur Ruine der alten Klosterkirche. Schwedische Soldaten hatten sie im Dreißigjährigen Krieg zerstört und die Nonnen, die sich darin verschanzt hielten, vergewaltigt und umgebracht. Danach hatte der Orden sich südlich von Bremen niedergelassen, ohne die Kirche je wieder aufzubauen. Zwischen Mauerresten und eingestürzten Säulen spielten wir unsere Lieblingsszenen aus »Dornröschen«, »Romeo und Julia« und »Antigone« nach. Wir liebten das tragische Ende von Antigone und ließen Dornröschen aus Kummer um den Tod ihres Prinzen durch die Hand eines Zauberers oder durch den Fluch der wiederbelebten Stiefmutter sterben.
    Auf unserem Weg durchs Dorf stammelte Käthe Grimm jedes Mal von neun toten Kindern, die mit ihr Versteck spielten. Sie sah immer mitgenommener aus und kaute ständig auf Brotkanten herum, als ob sie dadurch die Gespenster vertreiben könnte. Manchmal schlichen wir uns an sie heran und fielen dann schreiend über sie her. Wir achteten nicht auf ihre Flüche und Tiraden.
    »Neun tote Kinder«, sagte Sylvia schaudernd. »Und wenn es die wirklich gibt?«
    »Sie ist verrückt«, antwortete Anke. Im letzten Sommer hatte ich sie kaum zu Gesicht bekommen. An meinen freien Nachmittagen war sie oft verschwunden geblieben, um sich ohne mich mit den Jungen an der schwarzen Mühle zu treffen. »Neun tote Kinder. Wo sollen die nur alle herkommen?« Sie hatte mir nie etwas von jenen Nachmittagen, die sie mit Martin und Christian und den anderen verbrachte, erzählt, aber nun wollte sie nichts mehr mit »diesen dummen Jungen« zu tun haben. Sie war mir weit voraus. »Käthe sagt, dass es Geschwister sind.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
    »Ich frage mich, ob sie es je getrieben hat«, sagte Heike. Sie war die Tochter von Heidrun Brodersen und die älteste und dickste in unserer kleinen Gruppe, mit großen Brüsten und einem runden Bauch. Die Jungen waren wie wild hinter ihr her, und wir vermuteten, dass sie es schon getrieben hatte, weil sie das Thema bei jeder Gelegenheit, die sich ihr bot, anschnitt. Ihr Gesicht wurde rot, und ihre großen, wässrigen Augen sahen uns erwartungsvoll an. Wir mochten sie nicht besonders.
    »Vielleicht«, sagte Sylvia. »Vielleicht als sie so alt war wie wir. Könnt ihr sie euch ohne Kleider vorstellen?« Sie trug einen Kranz aus Gänseblumen in ihrem flachsblonden Haar. Wir hatten Rapunzel gespielt, uns aber nicht begeistern können. Es war heiß, und der Himmel hing ganz tief und drückte uns die Luft ab, wir saßen auf den Überresten der Kirchmauern, die aus großen Feldsteinen gebaut worden waren, und unsere Arme und Beine glänzten vor Schweiß. Unkraut und kleine Büsche sprossen aus Spalten und Fugen empor; wir hörten, wie die Schwalben die Luft durchschnitten. Wir langweilten uns, wir hassten Käthe, weil sie uns jeden Tag vor Augen hielt, was aus uns werden würde, sollten wir in Hemmersmoor bleiben. Als Anke vorschlug, ein Rendezvous für Käthe zu arrangieren, willigten wir alle ein.
    Es würde nicht schwer sein, Käthe einen Brief zu geben und sie davon zu überzeugen, dass ihn einer der Männer aus dem Dorf an sie geschrieben hatte. Sie war fett und

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