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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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grünen Hut mit Federn und Strasssteinen, und schon am Nachmittag zerrissen sich alle Frauen im Dorf darüber das Maul. Aber etwas hatte sich in diesem Winter gewandelt, und als Heidrun einen neuen Rosenbusch in einen neuen Topf in ihrem Garten pflanzte, hielt niemand an, um mit ihr zu sprechen. Niemand beglückwünschte sie zu ihrem grünen Daumen.
    Die wenigen Haare an meinen Wangen und meinem Kinn waren mittlerweile lang genug, dass man sie einen Bart nennen konnte, und eines Nachmittags lief ich Heike hinterher und rief ihren Namen.
    Sie drehte sich zu mir um, eine blühende Sommerlandschaft. Sie hatte jetzt einen Freund, einen zwanzigjährigen Fabrikarbeiter, der einen alten Opel fuhr. »Hallo Martin«, sagte sie.
    »Ich … Ich wollte dich fragen. Weißt du, der Jahrmarkt kommt bald nach Hemmersmoor, und vielleicht möchtest du hingehen.«
    Ihre Augen, die so blass waren, dass sie sogar im Dunkeln zu tränen schienen, blinzelten ein paar Mal, als ob ich aus Butterbrotpapier gemacht sei, und sie Schwierigkeiten hätte, mich zu erkennen. »Das geht nicht«, sagte sie.
    »Gehst du mit Rüdiger?«, fragte ich.
    Sie lächelte. »Ja.«
    Ich trat näher auf sie zu, und bevor sie sich abwenden konnte, drückte ich ihr einen Kuss auf die Lippen.
    »Was war das?«, fragte sie mit einem ausdruckslosen Gesicht.
    »Ein Kuss«, sagte ich blöde.
    »Ich würde gerne tanzen gehen«, sagte sie. »Warum fragst du mich nicht einmal?« Dann drehte sie sich um und ließ mich stehen. Ich musste einige Minuten warten, bevor ich meine Beine wieder spüren konnte. Meine Hände waren eiskalt und feucht. Ich konnte den Rest des Tages nichts essen.
    Als meiner Mutter berichtet wurde, dass ihr Sohn mit Heike gesprochen hatte, hielt sie mir eine lange Andacht. Die Brodersen Töchter seien nichts für Jungen wie mich. Und Heike im Besonderen sei zu alt und erfahren.
    »Ja, genau«, hätte ich gerne gerufen, aber ich hielt mich zurück. Jeglicher Widerspruch hätte meine Mutter verstimmt und nur dazu geführt, dass sie noch länger sprechen würde. Am Abend erzählte sie alles meinem Vater. Er seufzte und sagte: »Deine Mutter hat recht. Die Brodersens sind keine schlechten Menschen, aber du solltest einem älteren Mädchen nicht hinterherlaufen.«
    »Das ist alles?«, sagte meine Mutter. »Das ist alles, was du zu sagen hast?«
    Mein Vater war ein untersetzter Mann, mit roter Haut und rotem Haar, und seine Hände, obwohl sie klein erschienen, konnten auch dem stärksten Mann die Luft abdrücken. »Er ist jung«, sagte er. »Er wird sie nicht gleich heiraten.«
    Meine Mutter japste und blickte finster drein. »Ihr haltet alle zusammen,« sagte sie dann. »Du und Penck und die anderen. Kauft dem alten Säufer Schnaps, damit er dichthält. Denk nur nicht, dass ich keine Ahnung hab, was hier vor sich geht.«
    *
    Vielleicht verstopfte die Liebe zu Heidruns Töchtern uns Jungen die Ohren, sodass wir die Gerüchte, die in Hemmersmoor herumgingen, nicht mitbekamen. Vielleicht waren die Klagen der Frauen im Dorf schon immer mehr als nur Klatsch gewesen, und wir hatten nur ihre Bedeutung nicht erfasst. Vielleicht war es Eifersucht, die schließlich zur Konfrontation führte, oder vielleicht war es Geld, aber alles, an was ich mich erinnern kann, ist Heidruns grüner Hut mit den Federn, die zu jedem ihrer Schritte im Takt wippten. Was auch immer das gefährliche Gleichgewicht in Hemmersmoor zerstörte, wir sahen es nicht kommen.
    Am 2. August war das Wetter schwül und der Himmel bleiern. Alle schienen nervös zu sein, und meine Glieder schmerzten ständig, weil ich noch immer wuchs. Ein paar von uns standen auf den Dorfplatz und rauchten, als Käthe Grimm meinen Vater in die Hand biss. Sie war eine Geisterseherin, und in den letzten Wochen hatte sie sich besonders schlimm benommen. Einen Tag erschien sie in einem teuren Kleid und stank nach Parfüm, am nächsten schrie sie, dass tote Kinder sie verfolgten. Sie hatte heute meinen Vater angefleht, die Geister einzusperren, und als er sie endlich nach Hause führen wollte, weil immer mehr Leute um sie herumstanden und Käthe auslachten, war sie über ihn hergefallen.
    Wir schrien auf Käthe ein, als Rosemarie Penck, die Frau des Apothekers, plötzlich aus ihrem Geschäft gerannt kam. Sie kämpfte sich ihren Weg durch die Menge, um besser sehen zu können, dachten wir. Aber sie wollte nichts von Käthe. Stattdessen blieb sie vor Heidrun Brodersen mit ihrem grünen Kleid stehen, holte aus und schlug ihr

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